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Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Titel: Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
Autoren: Joan Anderson , Susanne Aeckerle
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Schweigen. »Ein wunderbarer Ort, nicht wahr? Ich kann gar nicht genug von diesem Strand bekommen.«
    |18| »Von wo sind Sie hergezogen?«
    »Aus Cambridge«, erwiderte sie. »Und Sie?«
    »Wir haben ein Sommercottage am Rande des Ortes«, antwortete ich. »Das ist mein erster Winter hier.«
    »Leben Sie allein?« fragte sie.
    »Ja.« Und dann setzte ich zu meiner eigenen Verwunderung hinzu: »Es ist eine ziemliche Herausforderung, allein zu sein nach dem langen Zusammenleben mit einem Ehemann.«
    »Wo ist er?« fragte sie. Ich hatte nicht vorgehabt, einer Fremden meine Geschichte zu erzählen, aber meine eigene Aufrichtigkeit hatte sie zu der Frage veranlaßt, also versuchte ich es mit einer Antwort.
    »Auf Long Island. Er hat eine neue Stellung angenommen, und ich beschloß, nicht mit ihm zu ziehen.« Ich hatte diese folgenschwere Entscheidung noch nie so kurz und bündig formuliert und war erleichtert, daß Joan mit einem warmen Lächeln reagierte. Als spürte sie meine Verlegenheit, setzte sie sich in Bewegung.
    »Sollen wir weitergehen?« fragte sie, obwohl ich ihr bereits folgte. Wellen schwappten über die Felsbrocken, während wir uns vorsichtig um glitschigen Tang und kleine Pfützen bewegten. Joan schritt mit einer Agilität voraus, die mich verblüffte. Wie macht sie das, fragte ich mich. Sie mußte mindestens fünfundachtzig sein. »Wie kommt es, daß Sie so behende sind?« fragte ich laut.
    »Durchs Tanzen, meine Liebe... das war schon immer meine Leidenschaft.«
    »Tanzen Sie nach wie vor?«
    »Wann immer ich die Möglichkeit dazu habe«, erwiderte sie mit einem Blick zu mir zurück, streckte einen Arm aus und drehte sich auf den Zehenspitzen wie eine Ballerina. Obwohl mir ihr knorriger Holzstock aufgefallen war, wirkte er eher wie ein Requisit und verstärkte ihre außergewöhnliche Anmut. »Was hat Sie an einem Nachmittag wie diesem hier rausgelockt?« |19| fragte ich, denn ich konnte meine Neugier nicht bändigen.
    »Oh, ich weiß nicht. Vielleicht das Grau dieses Tages«, erwiderte sie. »Der Nebel legt sich um meine Gedanken und läßt sie Halt finden. Und Sie? Warum sind Sie hier?«
    »Mir fiel die Decke auf den Kopf«, antwortete ich etwas prosaischer. »Der Sturm letzte Woche hat mich eingesperrt. Mein Cottage liegt am Ende eines sehr langen Weges, und es war niemand da, der mich mit dem Schneepflug befreien konnte.« Da sie auf meine Erklärung nicht reagierte, hatte ich das Gefühl, mich genauer ausdrücken zu müssen. »Ich komme mir ein bißchen wie ein kleines Boot vor, das gegen die Mole geworfen wird«, fuhr ich fort und deutete auf eines ein paar Meter entfernt.
    Einen Augenblick lang blieb sie stehen und ließ sich von mir einholen.
    »Wieso das?« fragte sie.
    »Ach, ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil ich mich losgelöst fühle, sogar frei, nachdem ich die ganze Verantwortung meines früheren Lebens hinter mir gelassen habe. Aber leider fühle ich mich auch orientierungslos, ohne ein Ruder oder irgendeine Vorstellung, wohin ich rudern soll.« Warum brabbelte ich weiter – plauderte so vertrauensvoll mit einer praktisch Fremden?
    »Komisch, daß Sie Ihre Situation so beschreiben, meine Liebe, weil ich mich auch ruderlos fühle«, gab sie zu.
    »Wirklich?« erwiderte ich. »Wie kommt’s?«
    »Meinem Mann geht es nicht gut«, sagte sie, und alles Melodiöse war aus ihrer Stimme verschwunden. »Ich konnte nicht mehr allein für uns beide sorgen. Jetzt, wo ich hier bin, werden wir sehen, was passiert.«
    »Haben Sie ihn in einer dieser Einrichtungen untergebracht?«
    »O ja, in einem kleinen Pflegeheim hier im Ort«, antwortete |20| sie, richtete sich auf und blickte in das Nichts, wie um einem Gefühl der Resignation zu trotzen.
    »Und, funktioniert das?« fragte ich vorsichtig.
    »Ganz gut. In einer kleinen Stadt ist so was viel besser möglich. Aber noch wichtiger ist, daß ich mir in derselben Straße ein Haus kaufen konnte«, erwiderte sie mit einem kleinen Lachen, ganz begeistert von ihrer Erwerbung. »Ich kann es nicht leiden, eingesperrt zu sein, besonders nicht an einem Ort mit festem Tagesablauf und Regeln.«
    Ich war beeindruckt. Wie konnte es jemand in ihrem Alter gelingen, das Leben so erfolgreich umzugestalten? Ich kam ja kaum zurecht, und ich brauchte nur an mich selbst zu denken. Bevor ich ihr eine weitere Frage stellen konnte, drehte sie sich um und kniff die Augen zusammen, als hätte sie etwas in der Ferne erspäht. »Es ist wichtig, immer nach vorne zu schauen, nie
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