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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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nicht sagen, die Sozialdemokratie hängt zwar die großen Diebe, lässt aber Millionen kleiner Diebe laufen. Die Sparkassenkapitalien sind in ihren verschiedenen Anlagen mit schuldig gewesen an der Aufrechterhaltung des Ausbeutungssystems gegen das Volk (Lebhafter Beifall links). Nur ein Bourgeois kann gegen die Einziehung der Sparkassengelder Widerspruch erheben.
    Der Präsident ruft den Redner zur Ordnung wegen der schweren Beleidigung, welche die Bezeichnung als Bourgeois gegen ein Mitglied des sozialdemokratischen Reichstags in sich schließt.
    Unter großer Spannung erhebt sich dann der Reichskanzler von seinem Sitz: Ich muss beiden verehrten Vorrednern bis zu einem gewissen Grade Recht geben. Es ist manches richtig von dem, was gesagt worden ist über die moralische Entstehung der Sparkassengelder und auch über die unmoralische Wirkung derselben unter der Geltung der Kapitalsherrschaft. Aber lassen wir durch rückwärtsgerichtete Betrachtungen nicht unsern Blick abziehen von der großen Zeit, in der wir leben. (Sehr gut! ) Wir müssen die Frage ohne Sentimentalität als zielbewusste Sozialdemokraten entscheiden. — Fünf Milliarden wieder herauszugeben an einen Bruchteil der Bevölkerung von 8 Millionen Personen, heißt die neue soziale Gleichheit aufbauen auf einer Ungleichheit (Beifall). Diese Ungleichheit würde sich alsbald in allen Konsumtionsverhältnissen fühlbar machen und die künftige planmäßige Organisation der Produktion und Konsumtion durchbrechen. Mit demselben Recht wie heute die Spartassengläubiger, könnten dann morgen auch diejenigen ihr Kapital zurück verlangen, welche zufällig ihre Ersparnisse nicht in der Sparkasse, sondern in Werkzeugen, Vorräten ihres Berufs, in Arbeitsmitteln oder Grundbesitz angelegt haben. (Sehr richtig! ) Wo bleibt denn zuletzt eine feste Grenze für die Reaktion gegen die bestehende sozialdemokratische Ordnung? Was immerhin die Sparer sich von den Früchten des Fleißes und der Enthaltsamkeit versprochen haben mögen, zehnfach und hundertfach wird solches jetzt allen zu Teil werden durch die großartigen Einrichtungen, welche wir zum Wohl der Arbeiter im Begriff stehen zu schaffen. Aber wenn Sie diese Milliarden uns jetzt entziehen und um diesen Betrag das Kapital schwächen, welches jetzt zum Wohl der Allgemeinheit arbeiten soll, so sind meine Kollegen im Ministerium und ich nicht länger in der Lage, die Verantwortung für die Durchführung einer zielbewussten Sozialdemokratie zu übernehmen. (Stürmischer Beifall).
    Es war noch eine große Anzahl Redner zum Worte gemeldet. Der Präsident aber machte darauf aufmerksam, dass in Anbetracht der vorausgegangenen Kommissionssitzungen und der Zeit, welche jedem Abgeordneten für die Lektüre der Drucksachen zugebilligt ist, der achtstündige Maximalarbeitstag abgelaufen sei und eine Fortsetzung der Sitzung deshalb erst am andern Tag stattfinden könne. (Rufe: Zur Abstimmung! Zur Abstimmung! ) Ein Antrag auf Schluss der Diskussion wird eingebracht und angenommen. Bei der Abstimmung geht der Reichstag über die Petitionen auf Herausgabe der Sparkassengelder gegen wenige Stimmen zur einfachen Tagesordnung über. Die Sitzung ist geschlossen.
    Unwillige Rufe wurden vielfach auf den Tribünen laut und pflanzten sich auf die Straße fort. Doch hatte die Schutzmannschaft die ganze Umgebung des Reichstagsgebäudes geräumt. Eine Anzahl tumultuierender Personen wurden verhaftet, namentlich viele Frauen. In größerer Entfernung vom Reichstagsgebäude sollen einzelne Abgeordnete, welche gegen die Herausgabe der Sparkassengelder gestimmt hatten, gröblich insultiert worden sein. Die Schutzmannschaft hat, wie erzählt wird, vielfach von ihren neuen Waffen, sogenannten Totschlägern, welche nach englischem Muster eingeführt worden sind, gegen das Publikum unbarmherzig Gebrauch gemacht. Zu Hause bei uns gab es sehr erregte Szenen, meine Schwiegertochter ließ sich gar nicht beruhigen, vergebens suchte meine Frau sie zu trösten unter dem Hinweis auf die reiche Ausstattung, welche alle Brautpaare demnächst von der Regierung zu erwarten hätten. „Ich will nichts geschenkt haben“, rief sie ein über das andere Mal heftig aus, „ich will den Ertrag meiner Arbeit. Eine solche Zucht ist ja schlimmer als Raub und Diebstahl. “
    Ich fürchte, das heutige Erlebnis ist nicht geeignet, meine Schwiegertochter in der Festigkeit ihrer sozialdemokratischen Grundsätze zu bestärken. Auch mein Schwiegervater hat ein Sparkassenbuch.
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