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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus
Autoren: Michael Siefener
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noch andere
Geräusche. Es war wie das Klappern von Schuhen. Doch dann wurden
diese Laute von dem anschwellenden Grollen verschluckt. Nur noch drei
Kerzen, die auf dem Altar vor der Götterstatue standen,
beleuchteten den Priester und den Schlossherrn. Sie blickten mit
schreckgeweiteten Augen nach oben.
    Ich sah, wie sich Lisa aus dem Griff des Priesters zu winden
versuchte. Er bemerkte es zunächst nicht einmal, doch als sie
sich schon fast befreit hatte, stach er mit einem irrsinnigen Schrei
zu.
    Er hatte zuviel Schwung und taumelte gegen den Altar, wollte sich
irgendwo festhalten, griff ins Leere, erwischte die Statue; sie
begann zu schwanken.
    »Lisa!«, schrie ich. Ich zerrte wie ein Wahnsinniger an
meinen Fesseln, doch ich konnte mich keinen Schritt von der Wand
fortbewegen.
    »Lisa!«
    Keine Antwort. Ich hatte genau gesehen, wie der Dolch sie
getroffen hatte. War sie tot? Ich wurde halb verrückt vor Angst
um sie.
    Die Statue stürzte. Wie in Zeitlupe. Sie schien in der Luft
zu schweben; dann prallte sie auf den steinernen Altar.
    Und zersprang.
    Ich konnte im Licht der drei Kerzen erkennen, dass die Statue
innen hohl war.
    Aber sie war nicht leer.
    Etwas wand sich wie eine Schlange daraus hervor. Der Priester lag
nun halb über dem Altar. Lisa war von dem Altar herabgerutscht;
ich konnte sie nicht mehr sehen. Der Schlossherr stand wie
versteinert da.
    Das Grollen verstärkte sich; es troff von der
Höhlendecke herab auf den Altar. Gleichzeitig schien der
schwarze, unförmige Umriss zu schrumpfen. Ein Wind saugte an
mir; die Luft schien zu implodieren. Das schwarze Ding, das sich auf
dem Altar wand, saugte alles in sich ein, auch den Umriss. Er wurde
eins mit der Schlange. Ich spürte, wie der faulige Wind an mir
zerrte. Er drang mir in die Nase, in den Mund, in die Poren. Und er
verkrallte sich in meinen Eingeweiden, als ob er etwas Festes
sei.
    Er hatte das gefunden, wonach er gesucht hatte. Er zog es wie
Würmer aus mir heraus.
    Es war schwarz; es schien nichts als Schatten zu sein. Ich
würgte. Es brach aus mir hervor.
    Die letzten drei Lichter erloschen.
    Einen Augenblick lang herrschte eine Stille, als sei die Welt
aufgelöst, als gäbe es nie wieder ein Geräusch, als
sei das Innere der Höhle in die Unendlichkeit des Weltalls
hineingesaugt worden.
    Und dann kam der Schrei.
    Der Schrei meines Onkels.
    Es lag so vieles in ihm: Grauen, Schmerz, aber auch höchste
Verzückung, zerreißende Ekstase, zerschmetterndes
Erstaunen.
    Und wieder: Stille.

 
24. Kapitel
     
     
    Es war eine schreckliche Beerdigung. Seit dem frühen Morgen
fiel der Regen in Strömen. Als ich einmal den Kopf hob und einen
Blick hinter den Rand meines Schirmes wagte, konnte ich kaum die
Silhouetten der Ober- und Niederburg erkennen. Ein graues Tuch hatte
sich über die Welt gelegt und drückte sie wie ein Alb
nieder. Ich hörte kaum den Worten des Pfarrers zu. Als ich zu
Kommissar Deschemski hinüberschaute, der links neben mir stand,
schweiften meine Gedanken zurück zu jenen Ereignissen der
vergangenen Tage – zurück zu jener Höhle. Ich
erinnerte mich an die grässliche Stille nach dem Schrei und
daran, wie plötzlich Lichter die Dunkelheit durchbohrt hatten
– Lichtfinger, welche die glitzernden Wände und die
erloschenen Kerzen abtasteten. Dann erkannte ich, dass die Lichter
von Taschenlampen ausgingen, hinter denen sich schwarze Schemen
bewegten. Menschen. Noch einen Tag zuvor hätte ich mir nicht
träumen lassen, dass ich jemals so froh sein würde, den
Kommissar und seine Polizisten zu sehen.
    Nun wurde der Sarg langsam in die Erde hinabgelassen. Ich
höre noch heute das Prasseln des Regens auf dem Holz.
    Als ich Deschemski später nach seinen Wahrnehmungen in diesem
unterirdischen Labyrinth fragte, war er seltsam einsilbig. Es war
schwierig gewesen, den Weg hinaus zu finden, doch schließlich
war es uns gelungen. Als wir in die sternklare Nacht eintraten und im
zweiten Innenhof des Schlosses standen, wirkte der Kommissar, als
wache er langsam aus einem Albtraum auf. »Da war gar
nichts«, hatte er barsch gesagt. »Alles
Einbildung.«
    Eine Einbildung hatte den Tod gebracht? Die Sargträger holten
die Seile wieder ein und der Geistliche sagte einige weitere
Worte.
    Die Trauergemeinde war schmerzlich klein. Ich sah Harder, der ein
wenig abseits stand. Er war blass wie der Tod.
    Alles Einbildung? Jedenfalls sagte mir Deschemski am Morgen
danach, dass er das Verfahren gegen mich einstellen werde. Friedrich
Adolphi sei seiner
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