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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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ist bei denen Tradition. Napoleon hat ja sogar die Quadriga vom Brandenburger Tor abmontiert. Deutsche Beamte haben damals den Franzosen dabei geholfen, die schönsten Sachen zu finden. Was für ein Volk. Sonderbare Geschichten von amerikanischen Farmern, die Gewissensbisse kriegen, 1945 als Soldat was mitgehen ließen und dann Gewissensbisse, und plötzlich kommt in Nürnberg irgendwo ein Paket an, ein intarsienverziertes Schachspiel aus dem 17. Jahrhundert.
     
    2007: Ich wollte ein Buch unter dem Titel«Plündern»herausbringen, das sollte wohl zur Chronik gehören. Einzelne ehemalige Soldaten befragt, ob sie was mitgehen ließen. – Da kam nicht viel zusammen. Ich seh’ noch die deutschen Frauen in französischen Pelzmänteln rumlaufen. Jaja. Geplündert haben sie alle. Es gab auch Todesurteile. – Mein Vater brachte mal französische Butterkekse mit. War das auch plündern? – Die endlose Reihe lateinischer Bezeichnungen für diesen barbarischen Akt.

Nartum Do 10. Januar 1991, warm
     
    Osnabrück, Jury-Sitzung für den Remarque-Preis.
    Wie lange eine Goebbels-Manipulation nachwirkt! Ich war der festen Überzeugung – vielleicht wollte ich es sein -, daß Remarque eigentlich«Kramer»geheißen und seinen Namen der besseren Wirkung halber ins Französisch-Hugenottische transponiert habe. Das eben war von Goebbels in die Welt gesetzt worden, um den Verfasser des pazifistischen Romans«Im Westen nichts Neues»lächerlich zu machen. (Immerhin: Er hat sich ein«que»statt des«k»genehmigt. Weshalb ich mir kein Ypsilon an den Namen genäht habe, ist mir unverständlich. Das hätte den Absatz meiner Bücher vervielfacht. Ein Ypsilon ist unbezahlbar. Aber dann hätte ich als ein Russe gegolten, und mit dem i bin ich sozusagen Pole.)
    Goebbels hat sich mehrere solcher Verschiebungen geleistet, manche ganz ohne Folgen, so wenn er behauptete, im Kino müßten Angreifer von links nach rechts laufen und Verteidiger von rechts nach links (oder umgekehrt? Wie war das noch? Und was bezweckte er damit?). – Eine bekannte Dame in Rostock, die«Vick»hieß, nannte sich«Wieck». Der einzige Stasi-Spitzel, der einen Bericht über mich geschrieben hat, war auch Träger dieses unangenehmen Namens. Siehe Grimms Wörterbuch Band 3.
     
    Allerhand Literatur über das Wohlleben des von den Linken gehätschelten Autors Remarque. Aber warum soll er nicht? – Er floh rechtzeitig ins Ausland, kaufte sich die Villa Böcklins. Nach dem Krieg hatte er sein Pulver verschossen.
    Seine Schwester wurde übrigens von den Nazis hingerichtet.
     
    2005: Inzwischen hat sich Osnabrück seines berühmten Sohnes erheblich erinnert. Sogar ein Steigenberger-Hotel heißt jetzt«Remarque-Hotel», und das Foyer ist mit häßlichen, wie von Laien gemalten Porträts des Autors vollgehängt. Man kennt die Fotos, von denen sie abgemalt wurden. Aber auf den Fotos erkennt man ihn nicht.
     
    In der Jury war ich völlig isoliert. Ich hatte Raddatz vorgeschlagen, und das war natürlich absolut verkehrt. Es war grotesk, wie sich die Jurymitglieder auch räumlich von mir distanzierten. Als ich mit ihnen zum Bahnhof ging, ließen sie mich vorauslaufen. Man müßte diese Leute einfach mal fragen:«Sagen Sie mal, was liegt eigentlich gegen mich vor? Gibt’s Akten?»
     
    Beim Frühstück im Hotel konnte ich mein Wiedervereinigungsplankton vermehren. Eine Dame erzählte mir:
    Ein Erlebnis von Entgrenzung und Ekstase. Ich hab meinen Chef fast entführt. Was später eine längere Beziehung wurde, fing dort an in der geballten Menge. Wir drängten uns aneinander unter Unterstützung von ganz vielen anderen Leibern. Bevor das passierte, war ich auf der Kundgebung von Kohl, und danach bin ich auf einer Fete gewesen, und da hab’ ich getanzt wie ein Derwisch, und ich hatte ein Gefühl von Vitalität, als ob auch ich wie eine Mauer gefallen war.

Nartum Fr 11. Januar 1991
     
    Tag der Schüler und Studenten in der Sozialistischen
Republik Vietnam
    Neujahrsempfang des«Hamburger Abendblattes»im Atlantik-Hotel. Ein unbeschreibliches Gedränge. Ich kannte buchstäblich niemanden, und mich kannte auch keiner. Es heißt, daß jedes Jahr ein wildes Gerangel um die Einladungskarten einsetzt, jeder möchte dabeisein. Warum bloß? Bei solchen Gelegenheiten krachen Fußböden durch.

Nartum So 13. Januar 1991
     
    Morgens sehr schön, blauer Himmel, warm, oder besser: nicht kalt.
    Im TV die traurigen Nachrichten, daß in dem sich jetzt anbahnenden Konflikt wahrscheinlich 30 000
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