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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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säuberlich getrennt. Die Russen wollen in die NATO. Man sollte sie schleunigst aufnehmen. Und jetzt erinnere ich mich, daß ich bei einer Rundfunkbefragung 1990 laut und deutlich gesagt habe: Berlin muß Hauptstadt werden, wenn Rußland womöglich eines Tages in die EG kommt, dann liegt Berlin goldrichtig. Der Moderator hat gedacht, ich sei plemplem. Das denkt er vielleicht heute noch, obwohl er den Anlaß vergessen hat. Es gibt Eindrücke, die hängenbleiben.

Nartum Sa 21. Dezember 1991
     
    I952: Erste Sendung des Deutschen Fernsehfunks
    Stalins Geburtstag.
     
    Schlief zunächst schlecht, weil der Mond in mein Zimmer schien: absoluter Vollmond.
     
    11 Uhr
    Ich schlief wieder ein und hatte unangenehme Träume. Hildegard hatte den Gästen einen winzigen Tisch hingestellt, da mußten sie sehr eng sitzen. Ich schrie herum, beschimpfte sie. («Dein Kopf ist ein ausgepustetes Ei!») Dann kamen Timmer und Anhang. Zufällig sah ich aus dem Fenster, und da hing eine Kuh an einem Draht am Balken, versuchte vergeblich, sich zu befreien, an einem Bein, wie beim Schlachter, Kopf nach unten. (Neulich hat Hildegard ein Huhn in dieser Lage im Stall befreit.)
     
    In der Früh hörte ich einen Vortrag über Holunder, es ist unglaublich, wie wenig ich weiß. Daß der Holunder (Holder) der Busch des Todes ist, daß Leute den Hut zogen, Hut ab vorm Holunder,«Hölderlin», der kleine Holunder, also der kleine Tod usw.
     
    Vertipper: Verhörprotzokoll (über Willi Graf).
     
    Schmilgun sagt, daß A-cappella-Chöre auf Schallplatte oder CD unverkäuflich sind.
    In der FAZ-Beilage Gottvater in der Sixtinischen Kapelle, in neuen Farben erstrahlend – wird aber in schwarzweiß gezeigt.
    FAZ:«Sie trafen auf einen im Herz der Alternative ‹Sozialismus oder Tod› erstarrten Castro»- schreibt Leo Wieland.
     
    Mit der Post kam Bilderangebot sozialistischer Realismus, leider ohne Preisangabe. Hier die Titel:
    • Seckelmann:«Lernkollektiv»1952
    • Moczany:«Karl Marx»1952
    • Moczany:«Rede von Karl Marx vor Parteigenossen»1953
     
    Das«Lernkollektiv»würde mir schon gefallen. Zur ewigen Erinnerung daran, daß ich nicht in dem Scheiß-Sozialismus leben mußte. Das ist mir erspart geblieben.
     
    Stölzl hat mir das Angebot vermittelt. Er schreibt, er hätte gern die T/W-Saga von Fechner im Historischen Museum gezeigt, über Weihnachten, aber es sei ihm nicht gelungen,«eine auf unserer Kinoausstattung spielbare Zwölfstundenfassung»zu bekommen. Er will es im Sommer noch einmal versuchen.
     
    Schon wieder: Ab heute hat die SU aufgehört zu bestehen. Jeden Tag dankt sie ab. Schlimmer noch als die allgemeine Verrottung dieses Systems ist seine Glorifizierung nun schon seit 1917 hier im Westen. Und da soll man nicht skeptisch sein? Es gibt so viele kluge Leute, da kommt man sich vor wie ein Einfaltspinsel.
    Es fehlt noch ein Symbol für die Abdankung, sonst ist sie für die Geschichte nicht nachvollziehbar. Vielleicht M. Gorbatschow, wie er seinen Schreibtisch leerräumt? Oder Lenin beerdigen? Eine allgemeine Bücherverbrennung ist ja leider nicht möglich. Das würde Erinnerungen an’33 wachrufen. Wohltuend wär’s schon.
    Petra Kelly durfte im Fernsehen zeigen, auf welchem Weg sie als Kind in die Schule gegangen ist. Sie schilderte das in bewegten Worten. Auch eine Schrebergartenanlage erwähnte sie, irgendwie hochinteressant.
     
    Die Landkarte ändert sich.
    Alma Ata heiße Vater des Apfels.
    So richtig sagt uns keiner, was der Unterschied zwischen dem SU-Reich und dem Staatenbund …
    Oberbefehl über Atomwaffen erhält Jelzin. Hoffentlich verwechselt er nicht mal sein Feuerzeug mit dem roten Auslöseknopf. Wenn einer schon morgens früh schto Gramm 13 trinkt?
    Gorbatschow geht, wie er gekommen ist, das Volk hat ihn nicht gewählt, sagt eine.
    Weder Trauer noch Euphorie.
     
    Das römische Weltreich habe einfach aufgehört zu existieren (Ranke).
    So geht auch die SU.
    Perestroika sei ein leeres Versprechen gewesen, so leer wie die Regale jetzt (ZDF).
    War Gorbatschow nicht einer der Unsern?
     
    SU hat die ganze Welt jahrzehntelang in Furcht versetzt und Gorbatschow bleibt ein großer Mann, der letzte Präsident der SU (Ruge).
    Gorbatschow wollte mit den Leuten von gestern den Staat von morgen machen (ZDF).
     
    «Bestechende Kufenführung»(ZDF):
in der Sendung über Sport (Eiskunstlauf).
    TV: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne … könnte man den Großen zurufen, die nun, ganz kleine Leute, in der SU Verträge
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