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Sommersturm

Sommersturm

Titel: Sommersturm
Autoren: Olaf Buettner
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nicht. Ich wollte lernen, meinen eigenen Weg zu gehen und
herausfinden, was mir selbst wichtig war. Sie wollten mich auf vorgegebenem
Kurs halten, sonst nichts. Das Problem, das Lehrer und ich miteinander hatten,
war damit praktisch unlösbar.
    Bedenken
bei meinem Umzug hatte ich nach wie vor, was Betty betraf. Heute, zwei Jahre
später, klingt das komisch für mich. Es kommt mir vor, als sei ich damals noch
ein ganz anderer gewesen, was wahrscheinlich sogar stimmt. Zwar heiße ich noch
immer Julian Bogen und sehe auch noch fast so aus wie damals, aber verändert
hab ich mich trotzdem. Früher haben alle gesagt, ich hätte den Jähzorn meines
Vaters geerbt. Aber gestern zum Beispiel hat mich hier ein Mitbewohner 
von der Seite angemacht, wofür ich ihm früher mit Sicherheit an die Gurgel
gegangen wäre, so wie damals bei Manfred. Jetzt aber hab ich es geschafft, ihn
einfach links liegen zu lassen. Es ist mir sonst wo vorbeigegangen, was er
meinte oder nicht meinte.
      
    Bettys
Auftritt am Beerdigungstag hatte mir imponiert und mich vorm Heim bewahrt.
Später kam mir der Gedanke, dass sie das alles womöglich gar nicht für mich
getan hatte, sondern einfach nur, weil sie solche Auftritte liebte.
    Daher
wunderte es mich nicht, dass sie sich praktisch nicht mehr für mich
interessierte, sobald ich bei ihr eingezogen war. Die ersten drei Tage
verschlief ich gnadenlos. Betty dachte überhaupt nicht daran, mich zu wecken,
so wie früher meine Eltern. 
    „Wie
kannst du mich einfach pennen lassen?“, stellte ich sie wütend zur Rede. „Ich
bin fast zwei Stunden zu spät gekommen.“    
    „Warum
schimpfst du denn mit mir?“, fragte Betty verdattert. „Hab ich verschlafen oder
du?“ An diesem Nachmittag kaufte ich mir einen Wecker und verschlief fortan nie
wieder.
    Wenn
ich aus der Schule nach Hause kam, stand kein Mittagessen auf dem Tisch. Betty
ermahnte mich weder, meine Hausaufgaben zu machen noch meine Klamotten in
Ordnung zu halten oder abends rechtzeitig ins Bett zu gehen. In all diesen Dingen
war ich plötzlich vollkommen auf mich selbst gestellt. Und auch wenn ich mir
das früher sicher gewünscht hatte: Jetzt vermisste ich meine Eltern deshalb
noch viel mehr.
    „Rosa
war ein ganz anderer Typ als ich“, sagte Betty eines Abends. „Immer schon.“
    Es
war das erste Mal, dass sie von sich aus über meine Mutter sprach. Und ich war
wie ausgehungert, etwas von ihr zu hören. Manchmal hatte ich so ein komisches
Gefühl, als habe es sie überhaupt nicht gegeben. Dabei war sie erst seit drei
Jahren tot.
    „Sie
war die Älteste“, sagte Betty. „Und ich die Jüngste. Vierzehn Jahre waren wir
auseinander. Sie war für uns alle ein Mutterersatz. Deine Großmutter ist bei
meiner Geburt gestorben.“
    Nach
über drei Wochen war Betty erstmals zu mir ins Zimmer gekommen. Peinlicherweise
hatte sie mein Heulen gehört und ich hatte es nicht geschafft, sie wieder
rauszuschmeißen. Sie hockte auf meiner Bettkante, die Knie bis unters Kinn
gezogen, als ob sie friere. Ihre Füße waren nackt. Sie redete leise, ich wurde
langsam locker. Es war kurz nach Mitternacht.
    „Warum
hat euer Vater nicht wieder geheiratet?“, fragte ich.
    „Keine
Ahnung“, meinte Betty. „Vielleicht, weil auch so alles funktionierte. Rosa hat
alles gemacht, was Mütter so tun. Genau das also, was du bei mir vermisst.“
    Ich
war verwirrt und schnell fügte sie hinzu: „Ich bin keine gute Mutter, das weiß
ich. Und werde es auch nie sein. Du musst jetzt schnell selbständig werden.
Vielleicht schneller, als gut für dich ist.“
    Ihre
Worte taten weh und kränkten mich. „Ich bin selbständig“, sagte ich.
    „Ich
weiß“, antwortete sie ernst. „Für einen normalen Fünfzehnjährigen bist du
wirklich ziemlich selbständig. Aber jetzt ist es vorbei mit dem normal sein.
Ich bin kein Ersatz für deine Eltern. Ich hab genug damit zu tun, mit mir
selbst klarzukommen.“
    „Kein
Problem“, erklärte ich, vermied aber, sie anzusehen.
    „Doch
ein Problem“, meinte Betty und  lächelte unsicher. Sie sah sehr schön aus,
wenn sie lächelte. „Fragt sich nur, ob  wir es in den Griff bekommen
oder?“ Wie abwesend spielte sie mit den Fingern an ihren Zehen
herum.  
    „Was
meinst du?“, fragte sie, als ich nichts sagte. „Können wir das schaffen?“
    „Es
ist kein Problem“, beharrte ich schießch . Ich konnte
ziemlich stur sein, wenn es drauf ankam. Und jetzt kam es drauf an. Peinlich genug,
dass sie mich beim Heulen erwischt
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