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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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ihn zu hören kriegte, und den sie vergebens in eine Art Lachen umzuwandeln suchte. Sie wußte, es war nicht ungefährlich, sich diesem Unwirklichkeitsgefühl zu überlassen, aber sie brauchte es mehr als alles andere. Es ging ihr bis auf die Knochen, drang durch Mark und Bein. Es war sinnlos, daß Jan sie danach befragte, aber er mußte es immer wieder tun, und sie mußte ihm immer wieder ausweichen. So waren die Regeln, vor vielen Jahren eingesetzt, von wem, weiß man nicht. Ellen zitierte Jan einen Satz aus einem Buch, das sie eben zufällig aufgeschlagen hatte: Sicher, früher oder später werden Mann und Frau wie Verwandte, aber das kommt ganz von selbst, wenn die Leidenschaftsich gelegt hat. Jan schwieg. Irgendwann an diesem Tag würde er Ellen ins Haar fassen, ihren Kopf nach hinten ziehen. So? Hat die Leidenschaft sich gelegt?
    Jetzt sagte er, sie sollten zum Teich runtergehen, den sie, auf einen Vorschlag von Irene, im Lauf des Sommers »Weiher« benennen würden; nachsehen, ob die Schwäne und die Taucherpärchen wieder da wären. Die Schwäne hatten fünf Junge, die sie sorgfältig vor den Blicken der Menschen verbargen. In stolzem Zug, je eines der Eltern an Anfang und Ende, die fünf Jungen in genau gleichem Abstand hintereinander aufgereiht, verschwand die Familie eilig hinter der wildüberwucherten Insel in der Teichmitte, auf der außer dem Schwanenpaar unzählige andere Wasservögel brüteten. Jan würde sich ein Fernglas kaufen, um sich einen Überblick über die Vogelarten zu verschaffen. Lange beobachtete er einen Haubentaucher, fasziniert durch dessen Fähigkeit, regelmäßig viel später und ganz woanders wieder aufzutauchen, als er es erwartet hätte. Achtzig Prozent der Landschaft sind Himmel, sagte Ellen. Das konnte ihr recht sein. Zwar zog Jan seit seiner Kindheit die Berge vor, aber nun schien es, daß er ohne sie auskam.
    Am Abend, als Ellen in der großen Stille, die früher wohl eines der Elemente der Erde gewesen ist und sich jetzt aufs Land zurückgezogen hat, in ihrem dunkelbraunen Holzbett lag, konnte sie spüren, wie die angespannte, durch Zermürbung entstehende Stadtmüdigkeit, die dem Schlaf nicht günstig ist, in die schwere, gesunde Landmüdigkeit überging. Vor dem Einschlafen dachte sie noch, wie lange sie jenen Stich in ihrem Innern nicht mehr gespürt hatte, mit dem ihr Körper ihranzeigte, wenn sie bis auf den Grund erschüttert war. Hatte die Leidenschaft sich gelegt? Sie wußte es nicht.
    Gegen Morgen hatte sie einen ausgesucht gräßlichen Traum. Wieder einmal fand ein Kongreß statt, in einem jener geräumigen, unübersichtlichen Traumgebäude mit einer Unzahl von Räumen und Gängen. Eine gemischte Menschenmenge, auch Ausländer darunter, Ellen sah weiße fremde Gewänder, Turbane. Im Mittelsaal, dem eigentlichen Tagungsort, den sie beklommen wiedererkannte, Redner, Geschäftigkeit, Ovationen. Es blieb ihr unbewußt, aus welchem Anlaß sie begann, sich zurückzuziehen, durch all die immer öder werdenden Säle, Kabinette, Zimmerfluchten und Gänge zum Rand des Gebäudes hin in unwirtliche, menschenleere Räumlichkeiten. Ein Rückzug auf sich selbst, verstand sie undeutlich. So geriet sie sehenden Auges – zuletzt ging es sogar eine Art Rutschbahn hinunter – endlich in eine ausweglose Lage: In einer engen Zementkammer stand sie an die Wand gedrückt, dicht vor ihr lief eine Art Schaufelrad, das diese Kammer wohl mit der Oberwelt verband, auf das sie aber nicht gelangen konnte, ohne zerquetscht zu werden. Durch winzige, grüne Papierschnipsel, die sie von einem Buntpapierblatt abriß und in die Schaufeln klemmte, signalisierte sie ihre Lage nach oben. Grün ist die Hoffnung, dachte sie im Traum. Nach einer langen Zeit hielt man das Schaufelrad an. Jans Stimme, künstlich ruhig gehalten, worüber sie lächeln mußte, gab ihr die Anweisung, sich ganz dünn zu machen, dünn wie ein Blatt Papier, um sich durch einen winzigen Spalt nach oben durchzuzwängen. Fast unsichtbar werden: Das war der Preis für Überleben. Sie hatte keine Wahl.
    Früh wunderte sich Jan über ihren Bärenschlaf. Gegen fünf, sagte er, hätten die gelben Landwirtschaftsflugzeuge das Haus in höchstens fünfzig Meter Höhe überflogen, mehrmals, um auf den umliegenden riesigen Feldern der KAP Dünger zu streuen. Hoffentlich haben wir nichts davon abgekriegt, sagte er. Oder die Bienen auf dem Lupinenfeld, wie letztes Jahr. Der Lärm von Ellens Schaufelrad war erklärt. Jan, der ihre Abendgedanken
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