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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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blöd, daß er nicht schwindeln kann. Daß sie schließlich, nachHause zurückgekehrt, alle ihre Kleider sofort in die Badewanne warfen, um das Dutzend Flöhe zu ertränken, das in ihnen steckte.
    Legenden aus der Pionierzeit, später wieder und wieder aufgetischt an den Grillfeuern, wie bei den alten Germanen, sagte Jenny. Jan sagte, als sie, im Sommer, von der richtigen Seite her auf ihr Dorf zufuhren, in der Natur gebe es keine richtigen oder falschen Seiten. Auch keine genauen Wiederholungen, daher auch keine Langeweile. Nie würden sie des Anblicks vom Sandberg aus auf das Dorf müde werden, nie der sanft geschwungenen, leicht erhöhten Horizontlinie, die sie von ihrer Haustür aus vor Augen hatten, nie des Panoramas der flachwelligen Landschaft vom ansteigenden Ostufer des Teichs. Oder der Himmel, sagte Ellen, die sich bei dem Argwohn ertappt hatte, es werde doch einmal etwas wie Langeweile für sie geben, etwas wie Überdruß, Reizlosigkeit, und die ihren Landaufenthalt insgeheim auch als ein Mittel dagegen ansah, wie alles Neue ein Mittel gegen den Überdruß am Alten ist. Dann war sie überrascht, daß sie anfangs immer gegen Abend von einer grundlosen Melancholie überfallen wurde, bis sie begriff, daß die vollkommene Stille, die hier herrschte, die sonst unwillkürlich andauernd angespannten Abwehrkräfte ihres Nervensystems abschaltete.
    Mit dem Haus war es dasselbe. Als gebe es ein Gesetz, daß man es soundsooft – aber wie oft, das weiß natürlich niemand – beim Näherkommen daliegen sehen müsse, ehe man es für immer erkannt und behalten hat. Zuerst taucht das graubraune, silbrig schimmernde Rohrdach auf, wie ein gut sitzendes, sorgsam gestutztes Igelfell, das sich glattlegt unter den Herbstregen undsich aufsträubt in der Sommerhitze. Dann, durch die alten, üppig tragenden Apfelbäume des Vorgartens durchscheinend, in das rote Ziegelmauerwerk eingepaßt, die weiße Fensterreihe, vier links, eines rechts von der blaugrünen Tür, die Jan später schwarzgrün streichen würde. Zuletzt, direkt unterm Dach, die dunklen Balken, die jedes Jahr mit Altöl getränkt werden mußten. Und wir, aus weit auseinanderliegenden Landstrichen zusammengekommen, sehr verschiedene Muster in uns tragend dafür, wie ein Haus sein soll – wie können wir alle beim Anblick eines mecklenburgischen Bauernhauses das gleiche Gefühl haben, lange nicht mehr gekannt: das Gefühl, nach Hause zu kommen?
    Das feine Knistern, wenn beim Öffnen der Tür die Spinnweben zerreißen. Die modrige, abgestandene Luft des alten Fachwerkhauses, die einem im winterkalten Flur entgegenschlägt. Das Aufstoßen der Fenster, die sich nach außen öffnen und mit Haken befestigt werden. Das Lüften der Matratzen und Kissen, das Aufstellen der Bücher auf dem alten schadhaften Sekretär im »kleinen Zimmer«. Das Auswischen der Stuben, immer noch gegen diesen inneren Widerstand. War es nicht falsch, sogar lächerlich, ihre Zeit derartig zu verschwenden. Sollte man nicht, anstatt den Ofen abzuwischen, die Sätze notieren, die einem im Kopf herumgingen. Andererseits: Wieso sollten die Sätze wichtiger sein als ein sauberer Ofen. Und hatte sie nicht, dachte Ellen, in den letzten ein, zwei Jahrzehnten einen großen Teil ihrer Zeit falsch angewendet. Der Widerstand verging sofort, wenn sie vor die Tür trat. Die Sonne stand senkrecht über dem Dach. Sie wartete, ob sich das Gefühl von Unwirklichkeit wieder einstellen werde. Sie brauchtenur den rotflammenden Quittenstrauch jenseits der Straße anzusehen, eine wilde Unmöglichkeit vor dem nüchternen Getreidefeld. Oder hochzublicken in die von Blüten über und über besetzte Krone eines der Apfelbäume, die ein Bauer vor fünfzig Jahren gepflanzt hatte, damit seine Kinder und Enkel sie abernten sollten, und deren Äpfel nun wir im Herbst zur Mosterei bringen würden. Pfeile von Unwirklichkeit in den wirklichsten Vorgängen, die sie trafen und ihr unmerkliche Wunden ritzten, aus denen der Stoff ihr entströmte, den man anscheinend braucht, um die eigene Anwesenheit auf irgendeinem Punkt dieser Erde ganz ernst, bitterernst zu nehmen. O ja, sie wußte schon, was sie von den Bauernfamilien unterschied, die so lange hier gelebt hatten und deren Fotos Jan in der Stube aufhängte, über ihren eigenen Familienfotos. Als sei er gewillt, sich selbst in eine weit zurückreichende Geschlechterreihe einzuordnen, nur weil er jetzt dieses Haus bewohnte.
    Ellen brachte jenen Laut hervor, der Jan so mißfiel, wenn er
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