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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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links liegt es unter den Bäumen versteckt am Kopf des Katers, vielleicht hundert Meter weit müßt ihr in den Wiesenweg reinfahren, dann seht ihr es. Ihr werdet erschrocken sein, wie rot es ist.
    Jenny, ihnen immer voraus, ließ ihr langes blondes Haar und die Schöße ihres olivgrünen Parkas hinter sich flattern, wenn sie gegen den Wind die Hügel hinunterlief,und sie kam als erste auf der höchsten Kuppe an, auf welcher der trigonometrische Punkt stand, ein Holzlattengerüst, das durch ein Warnschild des geodätischen Instituts gegen mutwillige Beschädigung gesichert war, das wir sofort »Neandertaler« tauften und das, über die Jahre hin, vor unseren Augen verfiel und am Ende spurlos verschwand. Dort oben stand Jenny, drehte sich sehr langsam um ihre Achse, suchte mit den Augen die Landschaft ab und rief: O Mann! Mann Mann!
    Gefällt es dir? rief Luisa, fast ungläubig, zurück. Ja, sagte sie später, daß Jenny die Gegend gefallen würde, daran habe sie nicht gezweifelt; auch wegen Jan hätte sie sich keine großen Sorgen gemacht. Aber daß Ellen hier hätte leben wollen, das sei ihr doch sehr unwahrscheinlich vorgekommen. Mir auch, sagte Ellen dann jedesmal und suchte sich wieder daran zu erinnern, wie ihr beinahe alles recht gewesen wäre, was sie aus der Stadt herausgebracht hätte, wo ihr beinahe nichts mehr recht war.
    Rahmers Haus, das sie an jenem Vormittag betraten, war nicht das gleiche Haus, durch das wir jetzt in Gedanken und in unseren Träumen immer wieder gehen. Antonis, versessen auf alte Möbel und alte Häuser, hatte die Vorverhandlungen mit Herrn Rahmer geführt, der jetzt in seiner ganzen Besitzerwürde vor die Tür trat und sie förmlich, beinahe feierlich, einlud, einzutreten. Endlich blüht die Aloe... Ellen suchte die nächste Zeile, während sich zum erstenmal die grüne Haustür vor ihr öffnete, »auftat« wäre wohl das passende Wort, während sie zum erstenmal über die alten, unbeschädigten, in schwarz-weißem Rhombenmuster angeordnetenBodenfliesen im Flur gingen, die Köpfe einzogen unter der niedrigen Stubentür, die damals noch weiß, nicht dunkelbraun gestrichen war. Endlich blüht die Aloe, endlich trägt... Am Ofen die beiden dicken Frauen: Frau Rahmer, ihre Krücken neben sich, und Olga, auf die Luisa uns zaghaft vorbereitet hatte: Erschreckt nicht, ihr werdet sehen, sie ist ein bißchen merkwürdig. – Was heißt merkwürdig, hatte Antonis gesagt, sag doch, wie es ist, schwachsinnig ist sie, was ist dabei! – Ach Antonis!
    Olga war es dann gewesen, die die Begrüßung in die Länge gezogen hatte, mit ihren heftigen Rufen: Aufs Sofa! Aufs Sofa!, gegen die Frau Rahmer jedesmal heftig protestieren mußte: Nein! Nein! Auf Olga sollte und sollte man nicht hören. – Sie ist nicht dumm, behauptete Luisa steif und fest, glaubt mir! Achtet mal drauf! – Auf allen Familienfotos, die Herr Rahmer später aus einer uralten Blechkeksschachtel herauskramte, stand oder saß Olga am Rand der Gruppe. Fotos von einzelnen Personen gab es nicht, von Paaren nur am Tag der Hochzeit – auch der Silbernen, gegebenenfalls der Goldenen Hochzeit. Seht ihrs nun, flüsterte Luisa. Es stimmte, daß Olgas Gesicht, dem man, als sie ein kleines Kind war, eigentlich nichts Besonderes ansehen konnte, mit den Jahren immer schwammiger, daß ihr Körper immer unförmiger wurde, bis sie war, wie wir sie nun sahen, mit dümmlichem Gesichtsausdruck, herabhängender Unterlippe, lange Zeit teilnahmslos vor sich hindösend und an unerwarteten Stellen des Gesprächs aufgeregt, sogar vorlaut. Wohin soll Olga gehen, wenn sie hier weg muß, fragte Ellen sich, und die Frage wurde ihr beantwortet, ohne daß sie sie aussprechenmußte: In ein Heim komme sie, sagte Olga vergnügt, die Fürsorgerin habe ihr schon einen Platz besorgt. Das wird schön! rief Olga, und beide Rahmers, Bruder und Schwägerin, konnten nur die Achseln zucken. Ihr Sohn und ihre Tochter, die auf der Fotofolge so eilig heranwuchsen, wollten ihr Elternhaus nicht, nicht geschenkt, die saßen fest in ihren Stadtwohnungen, die mochten nicht mal hier Ferien machen, die fuhren nach Bulgarien oder bauten sich einen Bungalow an einem See. Frau Rahmers einzige Sorge war, ob der Kaufpreis die Hypothek decken würde, die auf dem Haus lag, aber darüber hatte Jan den alten Rahmer schon beruhigt, der nun am liebsten ausführlich aus seiner Bürgermeisterzeit erzählen wollte, von der noch der Schreibtisch zeugte, der unter das zweite niedrige Fenster gerückt
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