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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei
Autoren: Manuela Martini
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junger Asiate mit Reiseführer in der Hand geht an meinem offenen Abteil vorbei, zögert kurz, setzt sich aber dann doch woandershin. Ich atme auf.
    Die Tage im Knast haben mich empfindlich gemacht. Fünf Meter hohe Mauern mit Stacheldraht, vergitterte Fenster, Eisentüren. Selbst wenn am Morgen die Zellen aufgeschlossen wurden, blieb das Gefühl der Enge. Und am Abend dann wieder das Klappern der Schlüssel, das kalte, metallische Klicken, wenn die Tür ins Schloss fällt. In engen Räumen fürchte ich zu ersticken und Körpernähe macht mich nervös. Auch die Monate in der Traumaklinik, in der ich nach der Untersuchungshaft in einem Einzelzimmer untergebracht war, konnten die Gefängniszeit nicht auslöschen.
    Endlich fährt der Zug wieder an. Stillstand kann ich kaum noch ertragen. Ich liebe es, stundenlang spazieren zu gehen. Wenn ich über längere Zeit in einem Raum sein muss, fange ich irgendwann an, auf und ab zu gehen, wie die im Zoo eingesperrten Tiger und Löwen.
    Meine Schrift ist krakelig, aber ich habe keinen Platz mehr an einem Tisch bekommen, also muss ich das Schreibheft auf die Knie legen, es geht nicht anders. Dr. Pohlmann hat gesagt, dass es mir helfen könnte, wenn ich die Sachen, an die ich mich erinnere, aufschreiben würde. Wenn ich überhaupt schreiben würde. Meine Gedanken ordnen. Das Karussell anhalten.
    Gleisanlagen, Industriebauten ziehen vorbei. Regentropfen klatschen an die Zugfenster. Ich betrachte sie, wie sie in viele kleine zerspringen und am Glas herunterrinnen wie unzählige Tränen, bis der Wind sie schließlich wegwischt.
    Die ersten Tage im Gefängnis habe ich jeden Tag geweint. Doch dann hörte es auf. Ganz plötzlich. Es war, als wäre in meinem Innern etwas zerbrochen und als könnte ich danach keinen Schmerz mehr empfinden. Als könnte ich überhaupt nie wieder irgendwas empfinden.
    Sie mieden mich, die Mädchen, die auf ihren Prozess wegen Ladendiebstahl, Raub oder Sachbeschädigung warteten, manche hatten sogar Angst vor mir. Ich kann mich noch an den ersten Tag erinnern. Das war der schlimmste. Ich wurde von den Mädchen gemustert, jeder Schritt, jedes Wort, jede Handbewegung wurde genau registriert. Denn schließlich hatte ich ja etwas viel Schlimmeres getan.
    Ich mochte nur eine. Katie. Sie hat nie erzählt, weshalb sie saß. Sie sagte überhaupt nur sehr, sehr wenig. Aber jeder Satz hat mich zum Nachdenken gebracht.
    Dann wurde ich taub. Hörte nicht mehr die Gespräche meiner Zellengenossinnen über ihre Ängste, dass sich ihre Freunde eine andere suchten, oder über Stars, deren Affären sie begierig in abgegriffenen Zeitschriften verfolgten. Währenddessen lag ich auf meinem Bett und grübelte.
    Immer wieder wurde ich befragt, immer wieder habe ich dieselben Antworten gegeben. Und immer wieder stieß ich dabei auf das große schwarze Loch, die Frage, warum ich mich nicht mehr erinnern kann.
    Nachdem es passiert ist, sind meine Eltern von Kinding nach München gezogen. In ein anonymes Hochhaus am südlichen Stadtrand. Ihre Tochter mache eine Ausbildung, haben sie erzählt, wenn Nachbarn nach Kindern fragen.
    In den ersten Tagen nach meiner Entlassung aus der Klinik habe ich mein Zimmer überhaupt nicht mehr verlassen. Dabei hatte ich mich so nach dem freien Himmel über mir gesehnt. Aber ich hatte Angst vor den Menschen, vor ihren Blicken, vor ihren Bewegungen, ich hatte panische Angst, auf der Straße angesprochen zu werden. Jede Minute fürchtete ich, dass sich eine Hand auf meine Schulter legte und jemand zu mir sagte: Du gehörst doch hinter Gitter!
    Vor drei Monaten hat mein Vater einen neuen Job in Köln gefunden. Seitdem wohnen wir dort. Wieder in einem anonymen Wohnblock, als müssten meine Eltern sich mit mir ihr Leben lang verstecken.
    Endlich, nach Stunden, so kommt es mir vor, dabei können nur Minuten vergangen sein, sind keine grauen Gebäude mehr zu sehen. Die Landschaft, die jetzt am Zugfenster vorbeifliegt, ist üppig grün. Ein verregneter Sommer. Hoffentlich fällt das Sommerfest am See nicht ins Wasser, denke ich.
    In den Tagen im Gefängnis, als ich den Himmel nur als Quadrat über dem Hof und durch die Eisengitter der Zelle gesehen habe, wünschte ich mir oft, im Freien in einer grünen Landschaft zu stehen und mich vom Regen durchweichen zu lassen. Eines Morgens schrieb ich den Song. Er kam wie von selbst.
    Raindrops are falling
Outside not here
I wish I were there
Where rivers flow
And the wind whistles
Our song
    A sunray is falling
Into my
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