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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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an ihn schmiegen, und dann würde er sie nach oben bringen, auch wenn ihm selbst in seiner leidenschaftlichen Aufwallung bewusst war, dass er sie nicht würde tragen können, nicht einmal auf beiden Armen.
    Als er das Zimmer betrat, knarrte eine Diele. Sie sah auf. Ihre Blicke trafen sich, aber nur kurz, denn sie schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich ab. Er sagte ihren Namen, sie schüttelte den Kopf. Mit dem Rücken zu ihm stand sie unbeholfen vom Sofa auf, trat beiseite und stolperte über das Eisbärenfell, das auf dem polierten Holzboden allzu leicht ins Rutschen geriet. Er selbst hatte sich einmal beinahe den Knöchel gebrochen und konnte den Läufer seitdem nicht ausstehen. Ja er hasste dieses weit aufgerissene Maul, diese hämisch gebleckten, gelb verfärbten Zähne. Sie hatten nie etwas unternommen, das Ding irgendwie am Boden zu befestigen, und es einfach wegzuschmeißen kam nicht in Frage, weil es ein Hochzeitsgeschenk ihres Vaters gewesen war. Patrice fing sich gerade noch, griff nach ihren Schuhen, wobei sie mit der freien Hand ihre Augen bedeckte, hastete an ihm vorbei, doch als er die Hand ausstreckte, um ihren Arm zu berühren, wich sie zurück, brach wieder und noch heftiger in Tränen aus und stürmte die Treppe hinauf.
    Er machte das Licht aus und legte sich aufs Sofa. Sinnlos, ihr nachzulaufen, wenn sie seine Nähe nicht wollte, es war auch gar nicht mehr nötig, er hatte es gesehen: Zu spät hatte sie mit der Hand den riesigen Bluterguss unter ihrem rechten Auge bedeckt, schwarz und an den Rändern flammend rot, von dem das Auge zugeschwollen war. Er stöhnte resigniert. Es ließ sich nicht vermeiden, es war seine Pflicht, er musste sich ins Auto setzen, jetzt, und nach Cricklewood fahren, Tarpin aus dem Bett klingeln, im Schein seiner Laterne über den verhassten Rivalen herfallen und diesem Kerl eine gründliche Lektion erteilen. Während ihm langsam die Augen zufielen, dachte er das Ganze noch einmal durch, zertrümmerte im Geiste genüsslich Tarpins Nasenbein, korrigierte die Szene noch ein wenig bei geschlossenen Augen und rührte sich erst wieder am nächsten Morgen, als Patrice zur Arbeit ging und die ins Schloss fallende Tür ihn weckte.

    Er hatte eine Ehrenprofessur an der Universität Genf inne, lehrte dort aber nicht; er gab seinen Namen, seinen Titel - Professor Beard, Nobelpreisträger - für Briefköpfe und Institute her, unterzeichnete internationale »Initiativen«, saß in einer Königlichen Kommission für Forschungsförderung, hielt populärwissenschaftliche Radiovorträge über Einstein, Photonen und Quantenmechanik, unterstützte Stipendienanträge, war Fachberater bei drei wissenschaftlichen Zeitschriften, schrieb Fachgutachten und Empfehlungen, interessierte sich für Klatsch und Tratsch, Wissenschaftspolitik, Stellenbesetzungen, Lobbyarbeit, den erschreckenden Nationalismus, half mit, bei ahnungslosen Ministern und Bürokraten unglaubliche Summen für einen weiteren Teilchenbeschleuniger oder für Messplätze auf neuen Satelliten lockerzumachen, trat vor gigantischen Versammlungen in den usa auf - elftausend Physiker auf einem Fleck! -, hörte sich an, was promovierte Nachwuchswissenschaftler über ihre Forschungen zu berichten hatten, hielt mit minimalen Variationen immer wieder dieselbe Vortragsreihe über die Beweisführung für das Beard-Einstein-Theorem, das ihm den Nobelpreis eingebracht hatte, verlieh selbst Preise und Auszeichnungen, nahm Ehrendoktortitel entgegen und hielt Tischreden und die eine oder andere Lobrede auf Kollegen, die in Pension gingen oder zur Einäscherung anstanden. Dank Stockholm war er in dieser spezialisierten Binnenwelt eine Berühmtheit und konnte sich, seiner selbst leicht überdrüssig und mangels anderer Alternativen, von Jahr zu Jahr treiben lassen. Alles Aufregende und Unvorhersehbare spielte sich in seinem Privatleben ab. Vielleicht war das ja auch genug, vielleicht hatte er in jenem einen genialen Sommer seiner Jugend schon alles erreicht, was er erreichen konnte. Eins stand jedenfalls fest: Es war zwei Jahrzehnte her, seit er das letzte Mal stundenlang ungestört mit Block und Bleistift in der Hand dagesessen und nachgedacht hatte, um eine neue Hypothese bis zu Ende durchzuspielen und zum Leben zu erwecken. Es ergab sich einfach nicht mehr - nein, das war eine schwache Ausrede. Es fehlte ihm an Willenskraft, an Material, an der zündenden Idee. Ihm fiel nichts mehr ein.
    Am Stadtrand von Reading, dicht am Getöse der nach
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