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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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verblüffenden Erkenntnis, dass nach Jahrzehnten handfester außerehelicher Affären auch eine Nacht mit einer imaginären Freundin recht aufregend sein konnte. Zum ersten Mal seit Wochen war er fast heiter gestimmt, und so pfiff er eine Musicalmelodie vor sich hin, während er sein Abendessen in die Mikrowelle schob; dann trat er vor den vergoldeten Louis-Quatorze-Spiegel unten in der Garderobe und betrachtete sein Gesicht: Er fand, es sei schmaler geworden, ein Anflug von Wangenknochen war sichtbar, er wirkte entschlossen, geradezu edel im Licht der 30-Watt-Birne, vielleicht half der süßliche, cholesterinsenkende Joghurtdrink ja doch etwas, den er sich jeden Morgen zu trinken zwang. Schließlich ging er zu Bett und wartete bei ausgeschaltetem Radio und gedimmtem Licht auf das reumütige leise Klopfen ihrer Fingernägel an seiner Tür.
    Nichts rührte sich, aber das beunruhigte ihn nicht. Von ihm aus konnte sie eine schlaflose Nacht verbringen und über ihr Leben nachdenken, vielleicht kam sie so dahinter, was wirklich wichtig war: dieser Tarpin mit seinen schwieligen Griffeln und dem Boot mit Gummischutz - oder ein Mann von Geist, der weltberühmte Beard. Die folgenden fünf Nächte blieb sie zu Hause, soweit er das beurteilen konnte; wenn er - meist nach Mitternacht - von seinen abendlichen Vorträgen oder Versammlungen oder Geschäftsessen zurückkehrte, stapfte er selbstbewusst die Treppe hinauf und hoffte auf das dunkle Haus den Eindruck eines Mannes zu machen, der ein schönes Rendezvous gehabt hatte.
    Am sechsten Abend hatte er keine Termine und blieb daheim, dafür verließ dann sie das Haus, nachdem sie mehr Zeit als gewöhnlich mit Duschen und Fönen verbracht hatte. Er stand in der kleinen Fensternische auf dem ersten Treppenabsatz und beobachtete, wie sie den Gartenweg entlangging und an den meterhohen zinnoberroten Stockrosen stehen blieb, zögernd, als wolle sie eigentlich gar nicht gehen. Sie streckte eine Hand nach einer Blüte aus, pflückte sie, zerdrückte sie zwischen frischlackiertem Daumen und Zeigefinger, betrachtete sie kurz und ließ sie schließlich fallen. Das Sommerkleid, beige Seide, ärmellos, eine Kellerfalte am Rücken, war neu. Wie sollte er das nun wieder deuten? Sie ging weiter zum Gartentor, mit schleppenden Schritten, wie ihm schien, oder zumindest weniger dynamisch als sonst, stieg in den Peugeot und fuhr mit fast normaler Beschleunigung davon.
    Während er in der Nacht auf sie wartete, war er schon nicht mehr so glücklich, zweifelte an seinem Urteil und fragte sich, ob die Idee mit dem Radio nicht doch alles ruiniert hatte. Um besser denken zu können, schenkte er sich einen Whisky ein und sah Fußball. Statt eines richtigen Abendessens vertilgte er einen Literbecher Erdbeereis und knackte ein Pfund Pistazien. Unruhig, umgetrieben von ziellosem Verlangen, kam er zu dem Schluss, dass er ebenso gut eine echte Affäre anfangen oder wiederaufnehmen könnte. Er blätterte in seinem Adressbuch herum, starrte lange das Telefon an, unternahm dann aber nichts.
    Als die Flasche halb ausgetrunken war, schlief er bei Licht und in voller Montur noch vor elf auf dem Bett ein, und als ihn ein paar Stunden später eine Stimme von unten weckte, wusste er zunächst nicht, wo er war. Der Wecker zeigte halb drei. Es war Patrice, sie sprach mit Tarpin, und Beard, vom Whisky noch innerlich gestärkt, war in der Stimmung, ein Wörtchen mitzureden. Groggy stieg er vom Bett und stopfte sich leicht schwankend das Hemd in die Hose. Leise öffnete er die Tür. Im Haus waren alle Lampen an, und das war gut so; schon stieg er ohne Gedanken an mögliche Folgen die Treppe hinunter. Patrice redete immer noch, ja während er durch den Flur auf die offene Wohnzimmertür zuging, glaubte er sie lachen oder singen zu hören und freute sich schon darauf, die kleine Feier zu sprengen.
    Stattdessen saß sie zusammengekrümmt auf dem Sofa, allein, ihre Schuhe lagen auf dem langen gläsernen Couchtisch, und sie weinte. Dieses erstickte, lebhafte Schluchzen war ihm neu. Falls sie jemals so um ihn geweint haben sollte, dann nicht in seiner Gegenwart. Er blieb in der Tür stehen, ohne dass sie ihn bemerkte. Sie bot einen traurigen Anblick. In einer Hand hielt sie ein zerknülltes Taschentuch, ihre zierlichen Schultern bebten, und Beard empfand nichts als Mitleid. Er hatte das Gefühl, jetzt sei eine Aussöhnung möglich, es brauche nur eine zärtliche Berührung, freundliche Worte, keine Fragen, und schon werde sie sich
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