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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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geschah. Sie ging direkt in ihr Zimmer, und er blieb in seinem, weil er ihr nicht in ihrer postkoitalen Verträumtheit auf der Treppe begegnen wollte. Da war es fast schon besser, wenn sie bei Tarpin übernachtete. Fast, von der schlaflosen Nacht einmal abgesehen.
    Eines Nachts Ende Juli lag er im Morgenmantel auf seinem Bett und hörte Radio, und als sie gegen zwei nach Hause kam, hatte er plötzlich eine Idee, wie er sie verunsichern und eifersüchtig machen und dazu bringen konnte, zu ihm zurückzukehren. Im bbc World Service sprach eine Frau über Familienfehden auf dem Land unter türkischen Kurden, ein einlullender Singsang voller Grausamkeit, Ungerechtigkeit und Absurdität. Beard stellte den Ton leise und deklamierte, ohne den Regler loszulassen, eine Strophe aus einem Kinderreim. Er nahm an, dass sie in ihrem Zimmer zwar seine Stimme, aber nicht seine Worte hören konnte. Dann drehte er die Lautstärke wieder hoch und ließ kurz die Frau zu Wort kommen, unterbrach sie nach ein paar Sekunden mit einem Satz aus dem Vortrag, den er am Abend gehalten hatte, und ließ sie ausführlich darauf antworten. Fünf Minuten lang trieb er das so: seine Stimme, die Frauenstimme, mit gelegentlichen kunstvollen Überschneidungen. Das Haus war still, lauschte. Er ging ins Bad, ließ Wasser laufen, drückte die Spülung und lachte laut auf.
    Patrice sollte wissen, dass seine Geliebte Witz und Verstand hatte. Dann stieß er einen gedämpften Juchzer aus. Patrice sollte wissen, dass er sich amüsierte.
    In dieser Nacht schlief er nicht viel. Um vier, nach ausgedehntem Schweigen, das auf friedliche Intimität schließen lassen sollte, klinkte er nachdrücklich murmelnd die Tür seines Schlafzimmers auf und ging rückwärts die Treppe hinunter, wobei er sich vorbeugte und mit den Handflächen auf die Stufen tappte, um zusätzlich zu seinen eigenen Schritten die seiner Gefährtin erklingen zu lassen. Die Logik dieser Aktion entsprang dem Hirn eines Irren. Nachdem er seine Geliebte zur Haustür gebracht und sich mit lautlosen Küssen von ihr verabschiedet hatte, ließ er die Tür entschieden ins Schloss fallen. Er legte sich wieder hin und dämmerte nach sechs endlich ein, während er sich immer wieder vorsagte: »Der Zweck heiligt die Mittel.« Schon eine Stunde später war er wieder auf den Beinen, um Patrice noch über den Weg zu laufen, bevor sie zur Arbeit fuhr, und ihr vorzuführen, wie gut es ihm auf einmal ging.
    Sie stand an der Haustür, die Autoschlüssel in der Hand; der Gurt ihrer mit Büchern vollgestopften Umhängetasche schnitt ihr durch die geblümte Bluse in die Schulter ein. Kein Zweifel, sie sah mitgenommen aus, erschöpft, auch wenn ihre Stimme so munter wie immer klang, als sie ihm erklärte, Rodney komme heute zum Abendessen, wahrscheinlich bleibe er über Nacht, und es wäre ihr lieb, wenn er, Michael, sich von der Küche fernhalten würde.
    An diesem Tag musste er ins Institut nach Reading fahren. Völlig übermüdet setzte er sich in den Zug, und während in dem verschmierten Fenster die wunderliche Kombination aus Chaos und Ödnis der Londoner Vorstädte an ihm vorüberzog, verfluchte er sich für seine verrückte Idee. War jetzt er an der Reihe, Stimmen hinter der Wand zu hören? Nichts da, er würde irgendwo auswärts schlafen. Aus seinem eigenen Haus vom Liebhaber der eigenen Frau vertrieben? Nichts da, er würde die Stellung halten und den Kerl zur Rede stellen. Eine Schlägerei mit Tarpin? Ausgeschlossen, der würde ihn ungespitzt ins Parkett rammen. Nein, er war einfach nicht in der Verfassung, Entscheidungen zu treffen oder vernünftige Pläne zu machen; er musste seine labile psychische Verfassung berücksichtigen und sich zurückhalten, fügsam und fair bleiben, er musste seine Grenzen respektieren, durfte nichts Unüberlegtes tun.
    Monate später sollte er diesen Vorsätzen gründlich zuwiderhandeln; am Ende dieses Tages erübrigten sie sich, denn Patrice hatte nichts zum Essen mitgebracht (der Kühlschrank war leer), und Tarpin ließ sich nicht blicken. Beard sah sie an dem Abend nur einmal, auf dem Flur, mit einem Becher Tee in der Hand: Sie sah eingefallen und grau aus, kaum wie ein Filmstar, eher wie eine überarbeitete Grundschullehrerin, in deren Privatleben alles schiefging. Waren seine Selbstvorwürfe im Zug umsonst gewesen, hatte sein Trick tatsächlich funktioniert, und sie hatte die Verabredung gramgebeugt abgesagt?
    Beim Nachdenken über die vergangene Nacht kam er zu der
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