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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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und sah immer noch so frisch aus wie Erdbeeren mit Schlagsahne. Nicht dass sie ihn hänselte oder verspottete oder sonst auf irgendeine Weise reizte - das wäre ja immerhin eine Art von Kommunikation gewesen -, nein, sie ignorierte ihn mit ihrer munteren Gleichgültigkeit, als wäre er Luft.
    Er musste aufhören, sie zu begehren, aber so lief das mit dem Begehren nicht. Er wollte sie. Als er sich an einem schwülen Abend nackt auf dem Bett in die Freiheit zu masturbieren versuchte, stellte er beunruhigt fest, dass er seine Genitalien nur sehen konnte, wenn er sich zwei Kissen unter den Kopf schob, und ständig funkte ihm Tarpin in seine Phantasien und trampelte wie ein trottliger Bühnenarbeiter mit Leiter und Eimer in den Kulissen herum. Ob irgendwo auf der Welt noch andere Männer gerade versuch ten, sich beim Gedanken an die eigene Frau, die keine zehn Meter entfernt im Nebenzimmer schlief, selbst zu befriedigen? Die Frage vertrieb alle Lust. Außerdem war es sowieso zu heiß.
    Von Freunden bekam er oft zu hören, Patrice erinnere sie an Marilyn Monroe, zumindest aus bestimmten Blickwinkeln und unter bestimmten Lichtverhältnissen. Er hatte sich immer über diesen schmeichelhaften Vergleich gefreut, ihn aber nie nachvollziehen können. Jetzt schon. Sie hatte sich verändert. Ihre Unterlippe war voller, sie konnte gefährlich den Blick senken, und ihr kurzes Haar rollte sich reizend altmodisch in ihrem Nacken ein. Zweifellos war sie sogar noch schöner als die Monroe, wenn sie an den Wochenenden blond, rosa und hellblau durch Haus und Garten schwebte. Diese teeniehafte Farbkombination machte ihn einfach schwach, und das in seinem Alter!
    Im Juli wurde er dreiundfünfzig, und natürlich »vergaß« sie seinen Geburtstag, nur um drei Tage später auf ihre muntere neue Art so zu tun, als sei er ihr nun doch noch eingefallen. Sie schenkte ihm einen grotesk breiten Schlips in Neongrün und bemerkte dazu, das komme jetzt wieder in Mode. Die Wochenenden aber waren das Schlimmste. Manchmal kam sie zu ihm ins Zimmer, wollte aber nicht reden, vielleicht nur gesehen werden, schaute sich wie verwundert um und verschwand wieder. Sie sah alles mit anderen Augen, nicht nur ihn. Manchmal beobachtete er sie, wie sie unter der Rosskastanie im Garten mit den Zeitungen im Gras lag und auf die Abenddämmerung wartete. Dann ging sie ins Gästezimmer, duschte, zog sich an, schminkte und parfümierte sich. Als könne sie seine Gedanken lesen, trug sie knallroten Lippenstift. Vielleicht ermutigte Rodney Tarpin sie zu diesem Monroe-Look - den Beard sich jetzt auch mit ansehen musste.
    Falls er noch da war, wenn sie ging (sooft er konnte, war er abends unterwegs), trieb seine quälende Sehnsucht ihn an eines der oberen Fenster; von dort beobachtete er, wie sie in die laue Luft von Belsize Park hinaustrat, den Gartenweg hinunterging - wie treulos von dem ungeölten Gartentor, immer noch zu quietschen wie in alten Zeiten - und am Bordstein in ihren schwarzen Peugeot stieg, einen kleinen Flitzer, der rasant beschleunigen konnte. Sie brauste so lustvoll los, dass sein Schmerz sich verdoppelte, weil er wusste, sie wusste, dass er sie beobachtete. Lange noch wirkte ihre Abwesenheit in der Sommerdämmerung nach, hing über ihm wie der Rauch eines Herbstfeuers, eine erotische Ladung unsichtbarer Partikel, die ihn wie benommen an Ort und Stelle verharren ließ. Wirklich wütend war er nicht, redete er sich ein, aber bitter war es schon.
    Er staunte selbst, dass er an nichts anderes denken konnte. Wenn er ein Buch las oder einen Vortrag hielt, dachte er nur an sie, oder an sie und Tarpin. Es war nicht gut, zu Hause zu sein, während sie bei diesem Mann war, aber seit Lissabon hatte er keine Lust mehr auf Treffen mit alten Freundinnen. Also übernahm er eine abendliche Vortragsreihe über Quantenfeldtheorie in der Royal Geographical Society, beteiligte sich an Radio- und Fernsehdiskussionen und sprang gelegentlich für erkrankte Kollegen ein. Von ihm aus konnte die Wissenschaftsphilosophie sich weiter selbst betrügen und das Gegenteil behaupten, aber für ihn war die Physik frei von menschlichem Makel und beschrieb eine Welt, die noch existieren würde, wenn Männer und Frauen und alle ihre Sorgen längst verschwunden wären. Darin war er sich mit Albert Einstein einig.
    Aber auch wenn er abends lange mit Freunden ausging, war er gewöhnlich vor ihr zurück und musste, ob er wollte oder nicht, warten, bis sie nach Hause kam, nur dass dann auch nichts
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