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So weit die Hoffnung trägt - Roman

So weit die Hoffnung trägt - Roman

Titel: So weit die Hoffnung trägt - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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Vertriebener? Ein Bummler? Henry David Thoreau schrieb in seinem Essay über das Gehen, das Wort Bummeln ( sauntering ) sei »von den Leuten abgeleitet, die im Mittelalter übers Land zogen und so taten, als würden sie à la Sainte Terre  – ins Heilige Land – gehen«, bis die Kinder riefen: »Da geht ein Sainte-Terrer, ein saunterer  – ein Heiliglander.« Vielleicht ist das die wahrhaftigste Definition dessen, was ich bin – ein Pilger. Mein Weg ist meine Pilgerschaft. Und wie alle lohnenswerten Pilgerschaften ist auch mein Weg eine Reise vom Elend zur Gnade . Gnade. Ich habe auf meinem Weg vieles gelernt, aber in letzter Zeit habe ich vor allem etwas über Gnade gelernt.
    Als Junge hörte ich meine Mutter »Amazing Grace« singen. Sie sprach bei Mahlzeiten das Tischgebet und pries alle Gnade. Mein Vater hingegen benutzte das Wort nur selten, beschränkte es auf die Sonntagssprache, hatte wenig Verwendung dafür im berechenbaren Leben eines Buchhalters. Aber er zeigte Gnade in seinem Tun, indem er sich um mich kümmerte, so gut er konnte, selbst nachdem sein eigenes Herz gebrochen war.
    Die meiste Zeit meines Lebens habe ich Gnade als Hoffnung auf ein helleres Morgen trotz der Dunkelheit des Heuteangesehen – und das stimmt. In dieser Hinsicht sind wir alle wie Pamela. Wir gehen einen Weg zur Gnade – in der Hoffnung auf Erbarmen. Was wir nicht begreifen, ist, dass Gnade mehr ist als unser Ziel, es ist die Reise selbst, die sich in jedem Atemzug und jedem Schritt zeigt, den wir tun. Gnade umgibt uns, wirbelt um uns herum wie der Wind, fällt auf uns herab wie Regen. Gnade hält uns auf unseren Wegen aufrecht, egal, wie gefährlich sie sein mögen, und täuschen Sie sich nicht, sie sind alle gefährlich. Wir müssen nicht auf Gnade hoffen, wir müssen nur die Augen öffnen, um ihren Reichtum zu sehen. Wir sind umgeben von Gnade, nicht nur in der hoffnungsvollen Zukunft, sondern im Wunder des Jetzt.
    Und wenn wir gut reisen, dann werden wir selbst zu Gnade und begreifen die Lektion, die wir auf diesem Weg lernen sollten – nicht den Irrtum abzutun, sondern dem Irrenden bereitwillig zu vergeben, großzügig den Balsam der Gnade und Liebe zu teilen, denn vor den Augen des Himmels sind wir alle Narren. Und je mehr wir unseren Teil der Gnade ausüben, desto besser werden wir sie auch empfangen. Der Reichtum dieser Gnade wird nur durch uns selbst beschränkt, da wir nichts empfangen können, was wir nicht bereit zu akzeptieren sind – sei es für uns selbst oder für andere.
    Es heißt, dass Er, der nicht vergibt, der größeren Sünde schuldig ist . Dieser Vers hat mich immer verwirrt. Ich hatte ihn als bestenfalls ungerecht und schlimmstenfalls grausam angesehen. Aber diese Worte waren nicht als Urteil gemeint – sondern vielmehr als Erhellung einer ewigen Wahrheit: dass wir, wenn wir keine Vergebung gewähren, die Brücke verbrennen, die wir selbst überqueren müssen.
    Auf meinem Weg habe ich Gnade gefunden. Ich habe siein Pamelas Freude über die Freiheit gesehen, in der Hoffnung in Analises Augen und in dem vergebenden Herzen von Leszek. Oder in Washington in der Weisheit von Ally und in der Freundschaft von Nicole, und auf meinem Weg durch Idaho in der Dankbarkeit von Kailamai. Und selbst jetzt, in meinem Augenblick der Unsicherheit und Angst, erkenne ich sie in der Anwesenheit von Falene. Ich bin umgeben von Gnade. Ich bin es immer gewesen. Wie hatte ich so blind sein können?
    Ich bin noch immer im Krankenhaus. Mein Vater ist ein paar Stunden nach meinem Gespräch mit Falene eingetroffen. Die Ärzte führten ein paar Tests durch, und zweifellos werden noch viele weitere folgen. Wir wissen noch nicht, ob mein Tumor bös- oder gutartig ist und ob er gestreut hat oder nicht. Ich weiß nur genug, um Angst zu haben. Ich fürchte mich vor dem Tod, wie wohl jeder geistig gesunde Mensch, aber ich bin ein Mann mit viel Vorstellungsvermögen, daher sind meine Ängste wohl größer als die der meisten.
    Trotzdem, ein Teil von mir – ob ein dunkler oder heller Teil, da bin ich mir noch nicht sicher – sehnt sich nach dem Schlaf des Todes, vielleicht, um in der Helligkeit und Wärme von McKales Armen aufzuwachen. Das scheint vielleicht die Hoffnung eines Narren zu sein – Liebe im Tod zu suchen –, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo McKale ist außer im Tod.
    Ich weiß es nicht. Seit ich in Seattle losgegangen bin, war meine Reise nie so ungewiss. Ich weiß nicht, ob oder wann ich mich wieder
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