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So still die Toten

So still die Toten

Titel: So still die Toten
Autoren: Mary Burton
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Klang der rauen, abgehackten Stimme drehte sie ruckartig den Kopf. »Warum sollte ich betteln?« Schon als sie die Frage stellte, wusste sie, wie absurd sie war. Sie würde betteln und alles tun, was von ihr verlangt wurde, um hier herauszukommen. »Um was soll ich betteln?«
    »Vielleicht zunächst ein Mal um dein Leben.« Seine Stimme war so sanft, beinahe samtig. Und für einen Augenblick klang sie sehr vertraut. War er auf der Party gewesen? Wo hatte sie diese Stimme schon ein Mal gehört?
    Sie lehnte sich gegen die Wanne, weil sie fürchtete, ihre Beine könnten unter ihr nachgeben. »Ich habe keine Angst.«
    Durch die Finsternis schlängelte sich ein leises Lachen, das sie mehr erschreckte, als wenn der Schattenmann Drohungen ausgestoßen hätte. »Du solltest aber Angst haben.«
    Tränen strömten ihr über die Wangen, doch sie hob entschlossen das Kinn. »Was ist das für ein Geruch?«
    »Verwesendes Fleisch.«
    Dieses Mal wurden ihr die Knie weich. Sie sank zu Boden und versuchte, mit langen Fingern Halt auf dem Stein zu finden. »Warum?«
    »Warum? Warum du hier bist? Warum sich verwesendes Fleisch im Raum befindet? Warum was?«
    Seine Stimme bohrte sich wie ein Messer in ihren Körper. »Warum ich?«
    Sie hörte Schritte auf dem Steinboden, die sich zu entfernen schienen. Einen panischen Augenblick lang dachte sie, er würde sie in diesem grauenvollen Verlies allein lassen. Stattdessen knipste er das Licht an.
    Augenblicklich durchflutete Neonlicht den Raum. Sie zuckte unwillkürlich zusammen und schloss die Augen, um sie vor der Helligkeit zu schützen. Dann öffnete sie die Lider vorsichtig wieder und gewährte dem Licht nach und nach Einlass in ihre Pupillen.
    Als sie ihren Kerkermeister schließlich scharf sehen konnte, stand er genau vor ihr. Er trug enge Jeans, einen dunklen Pulli und Gummihandschuhe. Er sah so normal aus. Sogar attraktiv.
    »Kenne ich Sie?«
    »Spielt keine Rolle.« Er klatschte in die Hände. »Möchtest du dich umsehen, ehe wir mit der Arbeit anfangen?«
    Sie drehte sich zu der Wanne um, die offenbar die Quelle des Gestanks war. Sie enthielt eine widerwärtige, faulige Brühe aus dunklem, schleimigem Wasser. An der Oberfläche trieben undefinierbare schmierige Fetzen. Verdammter Mist! War das etwa Fleisch, das noch halb am Knochen hing?
    Sie stieß einen Schrei aus und wandte sich ab. »Was ist das?«
    »Hier beginnt der Prozess der Säuberung. Das Fleisch muss vom Knochen abgelöst werden, bevor ich ihn polieren kann.« Sie hörte seiner Stimme an, dass er den Augenblick genoss. »Wir fangen jetzt besser an. Es gibt viel zu tun.«
    »Was zu tun? Wo sind wir hier?«
    »Weit weg von allen, die dir helfen könnten.«
    Sie begann am ganzen Leib zu zittern. »Wo
bin
ich?«
    »Wo ich meiner Arbeit nachgehe. Meine Kunst erschaffe.«
    »Was für eine Kunst?«
    »Schau dich um.«
    Sie drehte den Kopf nach hinten und sah eine Werkbank, ausgestattet mit Sägen, Schnitzmessern und Polierschwämmen. Sie fühlte sich an die Werkstatt eines Juweliers erinnert. Bis sie ihn sah – den polierten, weißen Oberschenkelknochen.
    »Das ist keine Kunst!«
    »Die Kamee, die ich dir geschenkt habe, schien dir zu gefallen.«
    Sie hob die Hand an die Halsgrube, wo sie den Anhänger noch vor wenigen Tagen getragen hatte. »Die war aus Knochen?«
    Er zwinkerte ihr zu. »Ich mag es, wie Knochen im Licht glänzt, du auch? Menschenknochen lassen sich schnitzen wie Sandstein.«
    »Sie müssen wahnsinnig sein.«
    Die blauen Augen funkelten. »Jedem das Seine.«
    »Bitte, tun Sie mir das nicht an.«
    »Es geht jetzt nicht mehr anders.«
    »Natürlich geht es. Ich werde nichts verraten.«
    Dann, als hätte sie überhaupt nichts gesagt, meinte er: »Wenn wir jetzt anfangen, sind wir nächste Woche um diese Zeit fertig.« Mit seiner ruhigen, behandschuhten Hand ergriff er ihren Ellbogen und zog sie zum Stehen hoch. »Bringen wir dich zum Tisch zurück.«
    Ihre Beine schienen aus Gummi zu sein, und ihr Inneres brannte wie Feuer. Als sie an sich hinabblickte, sah sie, dass ihr Kleid und ihre Beine blutverschmiert waren. Der Boden zu ihren Füßen war voller kleiner, dunkelroter Blutstropfen.
    »Was haben Sie mit mir gemacht?«
    Er führte sie zum Tisch. »Ich habe gar nichts gemacht. Hinauf mit dir.«
    »Mir tut alles weh.« Jemand war in sie eingedrungen, hatte sie verletzt. Erinnerungsfetzen blitzten vor ihrem geistigen Auge auf: jemand, der mit solcher Brutalität in sie hineinstieß, dass sie laut aufschrie. Er
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