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Singularität

Singularität

Titel: Singularität
Autoren: Charles Stross
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Bewegung
– zumindest kam er einem staatsmännischen Politiker von
allen Aktivisten noch am nächsten, auch wenn er die Zeit der
unfreiwilligen inneren Emigration in diesem Loch am Arsch der Welt
verbringen musste – hatte er die Pflicht, nach vorn zu schauen.
Und es war viel zu bedenken, denn bald schon würden jede Menge
Köpfe Pflastersteine zu spüren bekommen. Offenbar war dem
Festival, wer oder was es auch sein mochte, gar nicht bewusst, was es
da soeben angeboten hatte: für einen Papierberg den
Schlüssel zu dem Gefängnis herauszurücken, in das die
aristokratischen Herrscher seit Jahrhunderten zehn Millionen von
Sklaven gesperrt hatten – eingekerkert im Namen von
Stabilität und Tradition.
    »Freunde«, sagte er mit einer Stimme, die im
Überschwang der Gefühle zitterte, »hoffen wir, dass es
sich nicht um einen grausamen Scherz handelt. Denn wenn es kein
Scherz ist, können wir endlich das brutale Gespenst, das in der
Neuen Republik seit ihren Anfängen umgegangen ist, zur letzten
Ruhe betten. Ich hatte in diesem Zusammenhang auf Unterstützung
von… aus anderer Quelle gehofft, aber das hier ist viel, viel
besser, falls es sich bewahrheitet. Marcus, hol so viele
Ausschussmitglieder zusammen, wie du auftreiben kannst. Oleg, ich
werde ein Plakat entwerfen. Wir brauchen sofort fünftausend
Abzüge und müssen sie heute Abend verteilen, ehe Politowski
daran denkt, uns den Stinkefinger zu zeigen und den Ausnahmezustand
zu erklären. Heute steht Rochards Welt am Vorabend der
Befreiung. Und morgen die Neue Republik!«
     
    Am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, sorgten Soldaten der
Herzoglichen Palastwache und der Garnison, die oberhalb der Altstadt
auf dem Schädelberg stationiert war, dafür, dass sechs
Bauern und Techniker gehängt wurden. Die Exekution war eine
Warnung, die dem herzoglichen Dekret Nachdruck verleihen sollte: Wer sich mit dem Feind einlässt, wird mit dem Tode bestraft. Irgendjemand, vermutlich aus dem Büro des Kurators, war sich
der tödlichen Gefahr bewusst geworden, die das Festival für
das Regime darstellte, und zu dem Schluss gekommen, es müsse ein
Exempel statuiert werden.
    Dies konnte allerdings nicht verhindern, dass die Partei der
Demokratischen Revolution überall in der Stadt Plakate
aufhängte, die erklärten, was es mit den Telefonen auf sich
hatte, und ein altes Sprichwort ins Gedächtnis riefen: Gebt
einem Mann einen Fisch, und er hat einen Tag zu essen. Lehre ihn das
Fischen, und er hat sein Leben lang zu essen. Radikalere Plakate
forderten die Arbeiter dazu auf, vom Festival solche
Produktionsmittel zu verlangen, die Instrumente der
Selbstreproduktion darstellten. In der Volksseele fanden diese
Plakate große Resonanz, denn trotz aller Wunschvorstellungen
des Regimes waren bestimmte Erinnerungen im Volk noch lebendig.
     
    Um die Mittagszeit verübten vier bewaffnete Bankräuber
einen Überfall auf das Hauptpostamt in Plotsk, achtzig Kilometer
nördlich der Hauptstadt. Die Bankräuber hatten recht
ausgefallene Waffen dabei. Als ein Luftschiff der Polizei am Tatort
eintraf, wurde es in Stücke geschossen. Und das war kein
Einzelfall: Überall auf dem Planeten meldete der Apparat der
Polizei und Staatssicherheit Akte kriminellen Widerstands, vielfach
abgesichert durch den Einsatz modernster Waffen, die wie aus heiterem
Himmel aufgetaucht waren.
    Auf tausenden von Bauernhöfen im Hinterland schossen derweil
seltsame Kuppelbauten wie Pilze aus dem Boden, nicht weniger
luxuriös und bequem ausgestattet als jede Herzogliche Residenz.
Darüber prangten winzige Lichttupfen, und noch Stunden
später übertrug der Funk nichts als statisches Rauschen.
Später am Tag glitten tausend Kilometer südlich von Nowyj
Petrograd – bei Wiedereintritt in die Atmosphäre – die
glühenden Schweife von Raumkapseln über den Himmel, die auf
einen Notfall hindeuteten. An diesem Abend verkündete die Marine
mit tiefem Bedauern den Verlust des Zerstörers Sachalin. Er habe einen heroischen Angriff auf die feindliche
Schlachtflotte geführt, die derzeit die Kolonie belagere, und
den Invasoren schweren Schaden zugefügt. Dennoch habe man
über Notfunk Verstärkung aus der Reichshauptstadt
angefordert. Seine Kaiserliche Majestät behandle die
Angelegenheit auf höchster Dringlichkeitsstufe.
    Als spontane Demonstrationen von Arbeitern und Soldaten die
Nachtruhe störten, wurden Panzerfahrzeuge zur Sicherung der
Brücken über die Hava eingesetzt. Der Fluss trennte den
Herzoglichen Palast und die
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