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Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)

Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)

Titel: Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)
Autoren: P. J. Tracy
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einer Pressekonferenz das Wort geführt und war auch sonst nicht mit einem größeren Publikum konfrontiert gewesen. Er war das Arbeitstier hinter den Kulissen. Wie die meisten FBI-Agenten hatte er sein Berufsleben durchlaufen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Natürlich hatte er zahllose Verdächtige verhört, doch die saßen meist sowieso schon mit Handschellen in abgesperrten Räumen, er brauchte sie also nicht mehr mit Worten zu fesseln. Und jetzt, ein halbes Jahr vor der Zwangspensionierung, stand er hier, sollte ganz allein vor eine Menschenmenge treten und war zum ersten Mal in seiner Laufbahn richtig nervös.
    John Smiths Leben war immer genauso unauffällig gewesen wie sein Name. Seine Eltern liebten ihn, das einzige Kind, das ihnen vergönnt war, verwöhnten ihn aber nicht übermäßig. Und sie liebten einander, auch heute noch, wo sie langsam alt wurden und zufrieden in Florida lebten, dem besten Ort für greise Eltern.
    Er war ein braves Kind gewesen, leidlich intelligent, doch nach allgemeiner Einschätzung kein Genie, und aufgewachsen mit strengen Werten, wie das üblich war zu einer Zeit, als die Menschen noch zivilisiert genug sein mussten, um persönlich miteinander Umgang zu pflegen. Ins Berufsleben startete er mit einem Collegestudium und einem gutbürgerlichen Taktgefühl, das ihm ein Dasein ohne allzu viele Fallstricke ermöglichte.
    Mit acht Jahren, als er gerade in der zweiten Klasse war, hatte er gelernt, wie man eine Flagge faltete und wie wichtig es war, dass sie dabei niemals den Boden berührte oder bei Dunkelheit oder im Regen gehisst blieb. Solche Unterweisungen waren damals noch Teil des Stundenplans, gehörten zum Lehrstoff, waren gleichwertig mit dem Einmaleins. Keiner der Zweitklässler begriff genau, wieso, aber keiner stellte es jemals in Frage. Sie wussten nur, dass sie, wenn sie es gut machten, womöglich auserwählt wurden, am Ende des Schultags ohne Aufsicht das stickige Klassenzimmer zu verlassen und die Flagge vom Fahnenmast einzuholen.
    Jedes Mal, wenn John Smith einen Autohändler oder eine Filiale der Restaurantkette Perkins passierte, vor denen eine riesige Flagge an ihrem hohen Mast wehte, dachte er an jene Fluchten vor Einmaleins und Buchstabierwettbewerb, wenn er und zwei weitere Glückliche die Klasse verlassen durften, um die althergebrachte feierliche Pflicht zu erfüllen. Seltsamerweise fanden sie auf dem leeren Schulhof, in dessen Freiheit sie vor den Lehrern und dem engen Klassenzimmer flohen, noch etwas anderes, fast schon Spirituelles, das sich kaum wahrnehmbar im Gedächtnis einnistete. Auch so viele Jahre später spürte er noch die roten und weißen Streifen, die Sterne auf blauem Untergrund unter den Fingern, und diese Erinnerung hatte sein ganzes Leben geprägt.
    Er war weder der Superheld geworden, der er in seiner Comicphase im Kindergarten hatte werden wollen, noch der Superagent, der zu werden er gehofft hatte, als er sich für eine Laufbahn beim FBI entschied. Aber er hatte auch nicht versagt. Er spielte einfach im Mittelfeld, so wie die allermeisten Menschen. Er glaubte an Gott, die Familie, sein Vaterland und die Verfassung. Doch nichts von alledem hatte ihn auf das Publikum vorbereitet, dem er jetzt gegenübertreten musste.
    Er nahm seinen Platz am Rednerpult ein und musterte die kunterbunte Ansammlung von Menschen. Sie bildeten die wohl weltweit letzte Hoffnung, den aktuellen Fall noch zu lösen, und waren somit ein direktes Spiegelbild der Verzweiflung, die sich beim FBI breitmachte.
    Auf der einen Seite des Mittelgangs ein Bollwerk der Normalität: zehn FBI-Agenten, wie üblich in Anzug und Krawatte, alle in einer Reihe. Paul Shafer, der für Minneapolis zuständige Special Agent, saß am äußersten Rand dieser Gruppe und hatte eine Miene selbstgerechter Empörung aufgesetzt, weil man ihn zwang, an einem Seminar teilzunehmen, das Gesetzeshüter mit Gesetzesbrechern vereinte. Smith musste sich ein schadenfrohes Grinsen verkneifen. Shafer war noch jung und draufgängerisch genug, um sich einzubilden, dass er diesem exklusiven, furchterregend mächtigen Krawatten-Club auf ewig angehören würde. Doch auch er würde irgendwann herausfinden, dass das persönliche Verfallsdatum beim FBI meist sehr viel schneller kam als erwartet.
    Andererseits war auch in John Smith ein kleiner Draufgänger zurückgeblieben, der sich hin und wieder kurz zu Wort meldete, und so brachte er fast schon Verständnis für Shafers Unbehagen auf, als er auf die andere Seite
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