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Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)

Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)

Titel: Sieh mir beim Sterben zu (German Edition)
Autoren: P. J. Tracy
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Mississippiufers und war bei den Bewohnern ringsum ebenso gut bekannt wie bei der Polizei. Offenbar hatte er sich auch heute wieder ein ausgiebiges Saufgelage unbekannten Ursprungs gegönnt, wie eigentlich fast jeden Abend – in dieser Hinsicht hatten sie durchaus einiges gemeinsam. Alan empfand die vertraute Präsenz als merkwürdig tröstlich, so nervtötend der Mann auch sonst sein mochte.
    «Huhu! Jimmy!», jodelte er in seinem besten Koloratursopran. «Wo steckst du denn? Komm und hilf Mama wieder auf die Beine!»
    Wild Jim reagierte mit einer unverständlich gegrunzten Schimpftirade, die von irgendwo oberhalb der Uferböschung zu kommen schien.
    «Bittebittebitte, Jimmylein», stichelte Alan weiter. «Komm Mama helfen!»
    «Red kein Blech. Ihr blöden Schwuchteln ruiniert mir meinen Fluss und redet immer so viel Blech.»
    Alan sah kichernd zu den Sternen auf und fragte sich, ob er wohl jemals die Kraft finden würde, wieder aufzustehen. Wenn er ehrlich war, wollte er das auch gar nicht, zumindest noch nicht gleich. Hier unten müffelte es zwar ziemlich, und der Boden war feucht, aber ansonsten war es in dieser kleinen Mulde am Fuß der Uferböschung, die den Großstadtlärm von oben schluckte, erstaunlich friedlich. Wenn Wild Jim nur endlich die Klappe halten würde, dann konnte er vielleicht gleich hier an Ort und Stelle ein Nickerchen machen.
    Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als er sich schließlich doch aufrappelte. Während er sich noch hochhievte, hörte er ein Rascheln hinter sich im Gras, das immer näher kam. Alan hatte nicht damit gerechnet, dass Wild Jim sich tatsächlich zeigen würde: Er hatte zwar eine große Klappe, ließ sich aber normalerweise nie blicken.
    Doch wie köstlich und prickelnd war die Überraschung, als er sich plötzlich von zwei starken Armen hochgehoben fühlte, wie eine richtige Braut. Meist lief es doch recht anders ab, wenn sich schwule Männer am Fluss zu einem einmaligen anonymen Schäferstündchen zusammenfanden. Das war das eigentlich Traurige am Dasein einer Drag-Queen: Es gab einfach keine echten Prinzen in der Szene, keine romantischen Schurken, die kamen, sahen und siegten. Danach hatte sich Alans Mädchenherz immer schon gesehnt. Wie wunderbar, dass er nun plötzlich doch die romantische Heldin seiner Phantasie sein durfte. Und wie schade, dass er viel zu hinüber war, um sich hinterher noch an irgendetwas zu erinnern.
    Er hörte das Wasser plätschern, als sein Held in den Fluss watete, begriff aber erst, was das bedeutete, als er selbst untergetaucht wurde. Sein erster Gedanke galt den Schuhen, der zweite dem Kleid, doch diese beiden schwerwiegenden Tragödien entglitten den kläglichen Überresten seines Hirns, als der Mann ihn bis auf den Grund des Flusses drückte und dort festhielt. Alan hielt pflichtschuldigst die Luft an, schaute durch das Wasser nach oben und wartete ab, was aus dieser völlig abgefahrenen Begegnung noch werden würde.
    So nah am Ufer war das Wasser nicht besonders tief, die Oberfläche befand sich vielleicht fünfzehn Zentimeter über seinem Gesicht. Kein halber Meter Wasser trennte Alan vom Sauerstoff, doch dieser Umstand wurde auf einmal ungemein wichtig. Als ihm endlich klar wurde, dass nichts weiter aus der Sache werden würde, dass dies bereits das große Finale war, war es für seine gequälten Lungen schon zu spät. Er wehrte sich mit aller Kraft, doch es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sein Körper ihm signalisierte zu atmen, und zwar gleich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Mund zu öffnen und zum ersten Mal im Leben einen tiefen Schluck aus dem Mississippi zu nehmen. Danach wehrte er sich kaum noch.

Kapitel 2
    Es war dämmrig im Hörsaal und ausgesprochen kalt. Draußen näherten sich die Temperaturen der Dreißig-Grad-Marke, doch hier drinnen war die Klimaanlage darauf eingestellt, einer etwa tausendköpfigen Menschenansammlung einen angenehmen Aufenthalt zu verschaffen. Anscheinend hatte niemand das Wartungspersonal darüber informiert, dass an diesem speziellen Seminar nicht einmal fünfzig Leute teilnehmen würden, und so hockten sie jetzt alle dicht gedrängt in den ersten beiden Reihen und froren sich sämtliche freiliegenden Körperteile ab, was in einigen Fällen nicht gerade wenige waren.
    Neben dem Podium stand Special Agent John Smith und versuchte sich zu sammeln. In seinen dreißig Berufsjahren beim FBI hatte er nicht eine einzige Rede gehalten; er hatte kein Seminar gegeben, nie bei
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