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Sieg des Herzens

Sieg des Herzens

Titel: Sieg des Herzens
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sich der Junge zurück zu seinen Ahnen, erst noch zögernd, doch geweckt im Durst, mehr zu erfahren aus der Urzeit seines Volkes, dessen Blutes er war.
    Als die sich schnell begeisternden Mönche sahen, welch einzigartige erzieherische Wirkung diese Literatur auf das Herz ihres Schäfleins erzielte, lobten sie die Einsicht des weisen Abtes und sangen ein Tedeum in der Klosterkapelle. Hieronymus selbst aber, auf dem besten Wege, ein allgemein anerkannter und berühmter Missionar und innerkirchlicher Reformator zu werden, sah im Geiste schon den Bischofshut. Mit heiligem Eifer drückte er dem Jungen den nächsten Band in die Hände: die Mönchsdichtung des 10. und 11. Jahrhunderts.
    Von nun an war der Junge dem alltäglichen Leben entrückt. Mochte die Sonne noch so verführerisch in den Garten locken, mochte das Gras zum Ruhen einladen und der Gesang der Vögel das Ohr entzücken – in seiner Zelle saß der Junge und las mit glühenden Wangen das Waltharilied des Ekkehart. Wie oft sauste in Gedanken sein Arm durch die Luft, wenn der Held Walther von Aquitanien vor der Felsengrotte seine Feinde abwehrte und dem grimmen Hagen mit scharfem Schwertstreich bitter zusetzte. Wie jubelte er so laut, daß die Mönche beteten vor Freude, wenn die liebliche Hildegunde mit Walther vom Hofe Etzels flüchtete oder am Wasgenstein die Recken Günthers, voran Helmnot mit seinem eisernen Dreizack und den spitzen Widerhaken, am Mut des tapferen Helden zerschellten.
    Nach dem Waltharilied las er die Buchdramen der Roswitha von Gandersheim, die alte Geschichten in neuem Licht betrachtete und Begeisterung erregte. Und als am Ende des Bandes einige geistliche Mysterienspiele den Geist des Jungen fesselten, konnte der Abt Hieronymus nur mit Mühe erreichen, daß der Junge über der Nahrung des Gehirns nicht die des Leibes völlig vergaß.
    Freude machte sich im Kloster breit. Die Mönche sahen, welches Wunder Gott durch das Wort, wenn es richtig gesetzt war, dem Menschen geschenkt hatte. Sie sangen morgens um halb vier und abends um neun ein Tedeum laudamus zu Ehren der neu gewonnenen Seele.
    In ihrer Ahnungslosigkeit den einfachen Dingen gegenüber – denn sie bemühten sich immer, das Schwierige zu ergründen – sahen sie nicht die sich überstürzende Wandlung des Jungen, in dessen Innerem genau das Gegenteil von dem entstand, was ihre Frömmigkeit anstrebte. Sollte ihrem Wunsche nach diese Literatur die Seele zu Gott führen, so leitete sie sie in Wahrheit zum Volk zurück, zur Stimme des Blutes, die weder von der Umwelt noch von der Eintrichterung fremden Gebarens erstickt zu werden vermochte. War er damit Gott nicht näher, wenn er zu seiner völkischen Welt zurückkehrte und seinen Geist dazu erzog, das Schicksal seines Stammes zu erkennen – und nicht die Dogmen des Papstes auszulegen?
    So vergingen weitere drei Jahre, und als er siebzehn wurde, drückte ihm der Bruder Bibliothekar, ein weltlich angehauchter Freund des Heiligkeitseleven, in einem unbewachten Augenblick ein dickes Buch über die Dichtung des 13. Jahrhunderts in die Hand.
    »Bruder«, sagte der heimliche Freund, »dieses Buch nennt der Abt ein Schrifttum des Teufels. Er muß es wissen, er hat es durchstudiert, das Studierte ausprobiert, das Ausprobierte hatte Folgen, und die Folgen verschlangen Geld. Lies es nur, aber nachts, heimlich, versteckt, denn wenn der Abt dich damit erwischt, kommst du aus dem Büßen und Kasteien nicht mehr heraus.«
    »Was ist es denn, Bruder Bibliothekar«, fragte verwundert der Jüngling, »das der Abt studierte, ausprobierte, ihm Folgen eintrug und ihn Geld kostete?«
    »Sag es nie anderen, behalte es für dich, dann verrate ich es dir …«
    »Ich schwöre, es für mich zu behalten.«
    »Es ist die Minne.«
    »Was ist das?«
    »Lies das Buch, und du erfährst es.«
    Das ließ sich der Jüngling nicht zweimal sagen.
    Nun wurde er mit Dingen bekannt, die er im Grund seines Herzens wohl schon fühlte, doch noch nicht verstehen und bestimmen konnte. Als er deshalb den Abt einmal um Rat anging, bespritzte ihn dieser sofort mit Weihwasser und hieß ihn beten. Aber dadurch wurde es auch nicht besser.
    Schließlich kam der Moment, in dem er klar jenes drängende Gefühl zu erkennen wußte, das nicht mehr künstlich gedämpft, sondern – durch das Buch – in edelster Form geweckt und mit zartesten Empfindungen gestärkt wurde.
    Die Minnelieder des Walther von der Vogelweide wirkten ihr jahrhundertealtes und doch immer wieder neues Wunder:
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