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Sieg des Herzens

Sieg des Herzens

Titel: Sieg des Herzens
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bringen.
    Eines Tages – oder besser gesagt: eines Nachts – änderte sich überraschend seine Situation. Sie ließ ihn mit Dingen bekannt werden, die seine Seele brauchte, um zu leben.
    Der Frühling hatte Einzug gehalten. Die Nacht war lau und hinderte den Vierzehnjährigen, dessen Blut begonnen hatte, unruhig in den Adern zu fließen, daran zu schlafen. Irgend etwas trieb ihn dazu, das Bett zu verlassen und den Korridor entlangzuschleichen. Er hatte Durst. Vielleicht wollte er in der Küche nach einem Glas Milch suchen. Als er auf leisen Sohlen an der Zelle des neuen Abtes Hieronymus vorbeischlich, gewahrte er durch die Ritzen der uralten Holztür den Schein einer Kerze. Auch dünkte es ihn, daß er Kichern und dazwischen das Brummen und den schweren Atem des Abtes vernahm. Seine Neugier war geweckt.
    Sollte zu so später Stunde noch eine Beichte stattfinden? Oder ging etwas anderes vor sich? Das Kichern hatte aufgehört, der Atem aber war noch schwerer geworden: Brauchte der Abt Hilfe? War er krank? Sollte schon wieder ein Herzschlag fällig sein, der mit Atemnot einherging?
    Der Junge war nicht sicher und versuchte deshalb ganz leise und langsam die Tür zu öffnen. Durch einen kleinen Spalt lugte er in die Zelle hinein und erblickte den Abt in rhythmischer Gymnastik auf seiner Bettstatt. Einzelheiten waren jedoch im schwachen Schein der Kerze nicht zu erkennen. Der Spalt mußte also verbreitert werden, und eben dies wurde nun zum Problemfall, sowohl für den Jungen als auch für den Abt.
    Der Junge bedachte nicht, wie alt das ganze Kloster war. Er drückte gegen die Tür, und ein tiefes, lautes Knarren der Angeln wurde hörbar. Der Abt erstarrte einen Moment, fuhr dann hoch, stieß einen ganz und gar unheiligen Fluch aus und sprang überraschend gelenkig aus dem Bett, in dem der Junge die merkwürdigen Konturen einer zweiten Person wahrzunehmen glaubte. Dieser Eindruck war aber nur ein außerordentlich flüchtiger, denn schon stürzte der Abt auf ihn zu, fast über seine mühsam geraffte Kutte fallend, und schleifte den Jungen zur Klosterkapelle, wo er ihm befahl, für seine verstorbene Mutter zu beten. Dann eilte er umgehend und wieselflink wieder davon.
    Kopfschüttelnd kniete sich der Junge hin und betete bis zum frühen Morgen für seine verstorbene Mutter. Dann erschien der Abt, erlöste ihn, war sehr freundlich und verpflichtete ihn, über alles in der vergangenen Nacht strengstes Stillschweigen zu wahren.
    »Über alles!« wiederholte er mehrmals. »Verstehst du?«
    Der Junge nickte, obwohl ihn doch noch einige Unklarheiten beschäftigten.
    Von dieser Stunde an blieb er vom Abt für längere Zeit verschont, und es lockerte sich vieles für ihn. Das ging sogar so weit, daß das Studium der Bibel nicht mehr der alleinige Weg war, das Heil des Lebens zu ergründen. Einem jungen Menschen, der schon so tief in die höheren Formen des klösterlichen Evangeliums geblickt hatte –, und sei es auch nur zufällig und äußerst unklar –, mußte zugestanden werden, daß er für den Flug seines Geistes auch die dazu erkorene Literatur erhielt.
    Hieronymus brachte ihm also eines Tages statt öder Ablaßberichte ein dickes Buch in einem reich verzierten Ledereinband, auf dem in geprägten Goldlettern zu lesen stand, daß der Inhalt die geistliche Dichtung des 9. Jahrhunderts sei. Gierig griff der Junge nach diesem Labsal seiner Seele und begann, das berühmteste Erzeugnis kirchlicher Dichtkunst zu studieren: den nach germanischer Art und Auffassung geschriebenen ›Heliand‹.
    Wie anders las sich dieses Epos wahrer Mannhaftigkeit als jene überheiligen, artfremden Geschichten von den Mönchen, Bischöfen, Kardinälen und Päpsten in Rom und deren Auslegung der Bibel und des Lebens Christi! Hier erstand vor den Augen des Jungen ein germanischer Erlöser, der kraft seines Wortes voller Wahrheit und voller Gleichnisse seinem Volk und der Welt lehrte, Gutes zu tun und an einen Vater aller zu glauben.
    Jetzt verstand der Junge erst richtig das Wort ›Heiland‹, nun wußte er plötzlich um die Reinheit dieses Erlöserherzens, und sein Blick wurde klar, und sein Verstand übte sich in Kritik.
    Am Ende des Buches waren geheimnisvolle Besprechungen der Seele und der Wortsuggestion angefügt, jene Merseburger Zaubersprüche, die im Volksleben schlummerten und trotz allen Christentums in Momenten der Verzweiflung immer hervorzubrechen pflegten aus der Tiefe der Empfindung, die sie einst für die Herzen schuf. Hier tastete
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