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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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Lieferwagen zu schaffen, und forderte Bilodo auf, rasch einzusteigen, um nicht nass zu werden. Da er auch fand, dass man das Unwetter lieber abwarten solle, nahm der Briefträger das Angebot an und ging um den Wagen herum. In diesem Augenblick ließ ihn ein Ruf von der anderen Straßenseite aufhorchen. Bilodo wandte sich um und sah Grandpré, Ségolènes Briefpartner, in seinem unvermeidlichen Morgenmantel direkt gegenüber auf seinem Balkon im zweiten Stock stehen. Grandpré sprang, einen Regenschirm aufspannend, die Stufen hinunter, wobei er einen Brief schwenkte, den er gewiss noch einwerfen wollte, bevor Robert sich auf den Weg machte. Bilodo sah, wie er unvorsichtigerweise auf die Fahrbahn eilte, aus der inzwischen ein reißender Strom geworden war. Ohne auf den Verkehr zu achten, lief Grandpré auf sie zu, winkte ihnen, bat sie zu warten und achtetenicht auf den Lastwagen, der zu schnell durch den Platzregen nahte. Bilodo machte eine Handbewegung und rief Grandpré eine undeutliche Warnung zu, während die Hupe des Lastwagens ertönte. Aber es war zu spät: Die Bremsen quietschten, die Reifen glitten über die nasse Fahrbahn, und ein dumpfer Schlag war zu hören. Das Fahrzeug schien sogleich zum Stillstand zu kommen, als hätte sich seine gesamte kinetische Energie auf Grandpré übertragen, der wie eine große Stoffpuppe in die Luft geschleudert wurde und zehn Meter weiter mit einem dumpfen Aufprall neben dem Bürgersteig landete.
    Die Autos blieben stehen. Die Welt schien zu erstarren. Einen Augenblick lang hörte man nur das Brummen der Motoren im Leerlauf, den prasselnden Regen, der den Asphalt malträtierte und auf die Karosserien trommelte. Grandpré war nur noch ein unförmiger Haufen, den man für einen fallen gelassenen Arm voll Wäsche hätte halten können, wenn er nicht so gezittert hätte und von schrecklichen Krämpfen geschüttelt worden wäre. Robert reagierte als Erster und ging zu ihm. Bilodo folgte ihm, und sie knieten neben Grandpré nieder, der mit zu absurden Winkeln gefalteten Gliedmaßen und einem von zähflüssigem Blut, das der dichte Regen nicht aufzulösen vermochte, befleckten buschigen Bart gebrochen dalag. Der Arme war bei Bewusstsein. Er musterte erst Robert, dann Bilodo mit ungläubiger Miene, wobei seine Lider wie die Flügel von Zwillingsschmetterlingen flatterten und sein Blick im Regen ertrank. Seine Rechte hielt nochimmer jenen Brief, den er unbedingt hatte einwerfen wollen, und Bilodo sah, dass er an Ségolène adressiert war.
    Im Rinnstein floss ein sich rot färbender Strom. Er würde es nicht schaffen. Er rang verzweifelt nach Luft, und Bilodo dachte, es sei so weit, er würde sein Leben aushauchen, doch da gab Grandpré plötzlich seltsame Schluchzer von sich. Bilodo stellte verblüfft fest, dass der Sterbende lachte. Es war tatsächlich ein Lachen, heiser und hohl, farblos, gespenstisch. Bilodo erschauerte und merkte, dass es nicht nur ihm so ging: Den übrigen Anwesenden schien dieses finstere Lachen aus einer in den letzten Zügen liegenden Kehle genauso nahezugehen. Grandpré lachte noch ein wenig weiter, wie über einen quälenden Witz, bis ihm ein Hustenanfall die Luft abschnürte und er scharlachroten Speichel ausspuckte. Mit großer Mühe wandte er den Kopf, betrachtete den blutigen Brief in seiner Hand, und seine Finger krampften sich um den Umschlag. Grandpré schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander, als würde er die ganze ihm noch verbleibende Kraft in dieser letzten Bekundung seines Willens, dieser letzten Geste des Briefhaltens, bündeln, und plötzlich sprach er, sagte ein paar Worte, die so leise waren, dass allein Bilodo und Robert, die über ihn geneigt waren, sie hören konnten: Er flüsterte etwas Undeutliches, das so klang wie »im Schuh«. Dann war es plötzlich zu Ende mit ihm. Seine Lider waren geöffnet und seine Pupillen weiteten sich, wurden glasig. Grandprés Augen füllten sich mit Regen und bildeten kleineSeen, während seine letzten rätselhaften Worte in Bilodos Ohren nachklangen. Was bedeutete dieses »im Schuh«? Was hatte der Tote damit sagen wollen? Bilodo war kurz versucht, in den Schuhen des Leichnams nachzusehen, ob sich etwas darin verbarg, doch dann fragte er sich, ob er die Worte des Verstorbenen auch richtig auslegte: Sollte man sie angesichts des schmerzerfüllten Geröchels, mit dem sie einhergegangen waren, nicht eher als »und so« verstehen, als eine Anspielung auf jenen letzten Sprung ins Unbekannte, jenes
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