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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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Oase ihrer Zeilen zu laben? Erlebte er dieselbe Trunkenheit? Ließen ihn Ségolènes Gedichte ebenfalls Dinge sehen? Dieselben wie Bilodo? Und was schrieb er ihr zurück?
    Wenn Bilodo nachmittags auf dem Heimweg erneut am »Madelinot« vorbeikam, sah er manchmal Grandpré darin sitzen, der einen Kaffee schlürfte und mit inspirierter Miene etwas auf einem Block notierte. Verfasste er Gedichte? Bilodo hätte alles darum gegeben, es ihm gleichzutun. Er hätte Ségolènes Briefe nur zu gern wie die seiner anderen unfreiwilligen Briefpartner beantwortet, fühlte sich dazu jedoch außerstande. Wie hätte man auf ihre herrlichen Haikus anders reagieren können als mit ebenso kunstvoll ausgefeilten Gedichten? Und wie hätte Bilodo, den der bloße Begriff »Poesie« einschüchterte,dies gelingen sollen? Konnte ein einfacher Postbote über Nacht zum Dichter werden? Erwartete man von einem Vogel-Strauß, Banjo zu spielen? Konnte eine Schnecke Fahrrad fahren? Er hatte zwei oder drei Versuche unternommen und ein paar klägliche Möchtegernverse verfasst, die ihn jedoch nur mit Scham erfüllten, und sich dann nie wieder darangewagt, aus Angst, dem Wesen der Poesie Schaden zuzufügen und indirekt Ségolènes geheiligtes Werk zu beflecken. Besaß Grandpré diese seltene Gabe? Verfasste er Haikus?
    War er sich zumindest seiner glücklichen Lage bewusst? Fühlte er auch nur ein Viertel dessen, was Bilodo für Ségolène empfand? Nur ein Zehntel?

    Die Verehrung, die Bilodo für Ségolène hegte, ging einher mit einer starken Faszination für das gelobte Land, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, für den natürlichen Schmuckkasten, in dem sie in ihrem Glanz erstrahlte. Er unternahm in den Buchhandlungen wiederholte Razzien durch die Regale zum Thema »Reisen« und verbrachte Stunden im Internet damit, alles, was mit Guadeloupe zu tun hatte, begierig in sich aufzunehmen: ob die geologische Beschaffenheit des Archipels, einheimische Kochrezepte, musikalische Tradition und Rumfabrikation, Geschichte, Techniken des Fischfangs, Botanik oder Architektur, nichts entging seinem unstillbarenHunger. Bilodo entwickelte sich allmählich zu einem Spezialisten der »Schmetterlingsinsel«, er, der noch nie einen Fuß auf sie gesetzt hatte. Gewiss, er hätte dorthin reisen und sich sein eigenes Bild von Guadeloupe machen können, was er jedoch nie ernsthaft in Betracht gezogen hatte, da schon die bloße Vorstellung, sich auf den Weg zu machen, den unverbesserlichen Stubenhocker, der er nun einmal war, verunsicherte. Bilodo hegte nicht den Wunsch, Guadeloupe tatsächlich zu bereisen: Er wollte es sich lediglich in allen Einzelheiten vorstellen können, um seine Träume davon nähren und in einer realistischen Landschaft ansiedeln zu können, die Ségolène in einem günstigen Licht erscheinen ließ. So konnte er mit der ganzen erforderlichen mentalen Technologie in hoher Auflösung von ihr träumen.
    Er träumte davon, wie sie mit dem Fahrrad die von königlichen Palmen prächtig gesäumte Allée Dumanoir entlangfuhr. Träumte davon, wie sie nachmittags nach der Schule am alten Hafen La Darse spazieren ging, auf dem Markt Saint-Antoine ihre Einkäufe erledigte, in der großen Halle umherwandelte, zwischen den farbenfrohen Auslagen mit Stapeln von Feigenbananen und Jamswurzeln, Süßkartoffeln und Paprikaschoten, Ananas, Madeiras, Malangas und Sternfrüchten   – und natürlich den Bergen von Gewürzen wie Zimt, Colombo, Safran, Vanille, Piment und Curry, deren verschiedene Aromen die Sinne schärften   –, all die Punchs, Sirups und Leckereien nicht zu vergessen, das Flechtwerk, die Blumen, Sitticheund Besen   – ganz zu schweigen von den verschiedenen Wässerchen, den Erlösung, Treue, Wohlstand oder Liebe verheißenden Trünken und anderen magischen Gebräuen zur Heilung aller nur erdenklichen Leiden. Jede Nacht träumte er von ihr, und diese Traumfilme, in denen Ségolène die Hauptrolle innehatte, spielten überall auf Guadeloupe, auf den gewundenen Straßen und Zuckerrohrfeldern, auf den von riesigen Farnen gesäumten, von Orchideen übersäten abschüssigen Pfaden des Urwalds, auf den Bergen mit ihren grünen Schläfen, nebelverhangenen Stirnen und moosbewachsenen Wangen, von denen Ketten aus Wasserfällen und Kaskaden herabhingen. Da waren La Soufrière, in Schlaf versunken, doch nach wie vor bedrohlich, die leuchtenden Dörfer mit ihren roten Blechdächern, die Friedhöfe und ihre mit Muscheln im Schachbrettmuster verzierten
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