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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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sie ihr den neuesten Klatsch berichtete, und die herzzerreißenden Schreiben des Häftlings Richard L. aus dem Gefängnis von Port-Cartier an seinen kleinen Sohn Hugo. Da waren die langatmigen mystischen Episteln, die Schwester Régine von der Kongregation Saint-Rosaire in Rimouski ihrer alten Freundin Germaine sandte, und die kleinen erotischen Berichte, die Laetitia D., eine vorübergehend nach Yukon versetzte junge Krankenschwester, für ihren einsamen Verlobten verfasste, sowie jene seltsamen Botschaften, in denen ein rätselhafter O. einem gewissen N. eine sichere Methode der Beschwörung diverser übernatürlicher Wesen nahelegte. Es gab von jedem etwas, aus aller Herren Länder: Briefe vonnahen Verwandten und fernen Briefpartnern, von Bierverkostern, die einander ihre Aufzeichnungen übermittelten, von Globetrottern, die an ihre Mütter schrieben, von pensionierten Lokomotivführern, die sich gegenseitig ihre Wehwehchen aufzählten; da waren die allzu hoffnungsvollen Briefe, die Soldaten in Afghanistan für ihre verängstigten Ehefrauen verfassten, die besorgten Zeilen, die so mancher Onkel an seine Nichte richtete, zu Geheimnissen, die um keinen Preis ans Tageslicht kommen durften, die knappen Botschaften, in denen Zirkusakrobatinnen aus Las Vegas mit ihren einstigen Liebhabern Schluss machten, bis hin zu hasserfüllten Briefen, die nur aus Schimpfkanonaden bestanden. Vor allem aber gab es Liebesbriefe. Denn selbst nach dem Valentinstag blieb die Liebe das vorrangige Thema, das die meisten Schreibenden miteinander verband. Die in sämtlichen Zeiten und Tonfällen deklinierte Liebe, in allen nur denkbaren Varianten, ob als entflammter oder höflicher, draufgängerischer oder keuscher, ausgelassener oder dramatischer, mitunter leidenschaftlicher, häufig lyrischer Brief, umso bewegender, je schlichter die Gefühle darin ausgedrückt wurden, am anrührendsten jedoch, wenn diese sich zwischen den Zeilen, hinter vermeintlich nichtigen Worten, verbargen und insgeheim verzehrten.
    Nachdem er den jeweiligen Brief des Tages immer wieder gelesen, ihn bis ins Mark ausgekostet hatte, fertigte Bilodo für sein Archiv eine Fotokopie davon an und heftetesie in einem Ordner mit der entsprechenden Farbe ab, der in einem feuersicheren Schrank verstaut wurde. Das Original steckte er zurück in seinen Umschlag, den er geschickt versiegelte und tags darauf in den Briefkasten des Adressaten warf, als wäre nichts gewesen. Seit zwei Jahren frönte er diesen Heimlichkeiten. Es verstieß gegen das Gesetz, das wusste er, doch seine Schuldgefühle verblassten neben seiner alles beherrschenden Neugier. Schließlich kam niemand zu Schaden, und er selbst ging, solange er achtsam war, kein großes Risiko ein. Wem würde es etwas ausmachen, wenn ein Brief mit vierundzwanzigstündiger Verspätung zugestellt wurde? Und wer würde überhaupt merken, dass er verspätet war?

    Bilodo fing auf diese Weise etwa dreißig Korrespondenzen ab, die zusammen eine Art Seifenoper mit den verschiedensten Handlungssträngen ergaben. Vielmehr die eine Hälfte einer Seifenoper, deren zweite Hälfte, nämlich die »ausgehende Post«, ihm leider nicht zugänglich war. Diesen anderen Teil indessen malte er sich mit Vorliebe aus und verfasste ausgefeilte Antworten, die er jedoch nie abschickte, um dann, wenn wieder ein Brief eintraf, nicht selten verblüfft festzustellen, wie selbstverständlich er zu seiner eigenen verborgenen Antwort passte.
    So war es. Bilodo lebte durch andere. Der Schalheit des realen Lebens zog er seine ungleich farbigere, an Emotionenso viel reichere innere Fernsehserie vor, und von sämtlichen heimlichen Briefen, die dieses faszinierende kleine virtuelle Universum ausmachten, beflügelten und bezauberten ihn keine so sehr wie die von Ségolène.

3
    Ségolène lebte in Pointe-à-Pitre, auf Guadeloupe, und schrieb regelmäßig an einen gewissen Gaston Grandpré, der in der Rue des Hêtres wohnte. Seit zwei Jahren fing Bilodo ihre Briefe ab, und jedes Mal, wenn er beim Sortieren der Post einen entdeckte, empfand er nach wie vor dieselbe Erschütterung, denselben ehrfürchtigen Schauer. Einen solchen Brief ließ er heimlich in seiner Jacke verschwinden und gestattete sich erst, wenn er seine Runde machte, irgendeine Gefühlsregung, wobei er den Umschlag hin und her wendete und das verheißungsvolle Schreiben betastete. Er hätte es gleich öffnen und sich an den darin verborgenen Worten berauschen können, doch wartete er lieber. Er
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