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Sie

Titel: Sie
Autoren: Stephen King
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einem fusseligen rosa Morgenrock, ihr Gesicht
glänzend durch irgendeine Creme (er konnte den Hauptbestandteil dieser Creme ganz eindeutig erkennen, wenngleich er die Flasche niemals gesehen hatte, aus der sie sie entnahm; der schafartige Geruch von Lanolin war stark und aufdringlich), und rüttelte ihn aus seinem betäubten, traumbedrängten Schlaf, die Tabletten in einer Hand; der pockennarbige Mond rekelte sich im Fenster über einer ihrer massiven Schultern.
    Nach einer Weile - nachdem seine Besorgnis zu groß geworden war, um sie noch länger zu missachten - gelang es ihm herauszufinden, was sie ihm einflößte. Es war ein schmerzstillendes Mittel auf Codeinbasis namens Novril. Der Grund dafür, dass sie ihm die Bettpfanne so selten bringen musste, war nicht nur der, dass er von einer Diät lebte, die fast ausschließlich aus Flüssigkeit und Gelee bestand (zuvor, als er sich in der Wolke befand, hatte sie ihn intravenös ernährt), sondern auch, dass Novril bei Patienten, die es einnahmen, zu Verstopfung führte. Eine weitere Nebenwirkung deutlich ernsterer Natur war Atemlähmung bei empfindlichen Patienten. Paul war nicht besonders empfindlich, auch wenn er fast achtzehn Jahre lang starker Raucher gewesen war, aber sein Atem hatte trotzdem zumindest einmal aufgehört (vielleicht noch öfter, in dem Nebel, an den er sich nicht erinnern konnte). Das war, als sie ihn Mund zu Mund beatmet hatte.
    Es konnte sich um einen Zwischenfall gehandelt haben, wie sie sich eben manchmal zutragen, aber später begann er zu argwöhnen, dass sie ihn mit einer versehentlichen Überdosis fast umgebracht hatte. Sie hatte nicht so viel Ahnung von dem, was sie tat, wie sie selbst glaubte. Das war nur eines der Dinge an Annie, das ihm Angst machte.

    Etwa zehn Tage nachdem er aus der dunklen Wolke aufgetaucht war, fand er drei Dinge fast gleichzeitig heraus. Das erste war, dass Annie Wilkes über einen erheblichen Vorrat an Novril verfügte (tatsächlich hatte sie eine Vielzahl der verschiedensten Medikamente). Das zweite war, dass er von Novril abhängig war. Das dritte war, dass Annie Wilkes auf gefährliche Weise verrückt war.

5
    Die Dunkelheit war den Schmerzen und der Sturmwolke vorausgegangen; er begann sich an das zu erinnern, was der Dunkelheit vorausgegangen war, als sie ihm erzählte, was ihm zugestoßen war. Das war, kurz nachdem er die traditionelle Wenn-der-Schläfer-erwacht-Frage gestellt und sie ihm geantwortet hatte, dass er sich in der kleinen Stadt Sidewinder in Colorado befand. Des Weiteren hatte sie ihm erzählt, dass sie jeden seiner acht Romane mindestens zweimal gelesen hätte, ihre persönlichen Favoriten, die Misery -Romane, sogar vier-, fünf-, vielleicht sechsmal. Sie wünschte nur, er würde sie schneller schreiben. Sie sagte, sie hätte kaum glauben können, dass ihr Patient wirklich der Paul Sheldon war, selbst nachdem sie seinen Ausweis in der Brieftasche gesehen hatte.
    »Wo ist übrigens meine Brieftasche?«, fragte er.
    »Ich habe sie sicher für Sie verwahrt«, sagte sie. Ihr Lächeln brach plötzlich zu einer argwöhnischen Wachsamkeit zusammen, die ihm ganz und gar nicht gefiel - es war, als würde man eine tiefe, beinahe von Sommerblumen verdeckte Kluft auf einer strahlenden, fröhlichen Wiese
entdecken. »Glauben Sie, ich hätte etwas daraus gestohlen? «
    »Nein, selbstverständlich nicht. Es ist nur, dass …« Es ist nur, dass sich darin mein ganzes restliches Leben befindet, dachte er. Mein Leben außerhalb dieses Zimmers. Außerhalb der Schmerzen. Außerhalb der Art und Weise, wie die Zeit sich zu dehnen scheint wie der lange rosa Faden eines Kaugummis, den ein Kind sich aus dem Mund zieht, wenn es sich langweilt. Denn genau so ist es in der letzten Stunde, bevor es die Tabletten gibt.
    »Nur was , Mister Man?«, beharrte sie, und er stellte besorgt fest, dass der argwöhnische Gesichtsausdruck zunehmend finsterer wurde. Die Kluft wurde breiter, als würde hinter ihrer Stirn ein Erdbeben wüten. Er konnte das konstante, schrille Heulen des Windes draußen hören, und plötzlich sah er sie im Geiste, wie sie ihn aufhob und über ihre massive Schulter warf, wo er wie ein über eine Steinmauer geworfener Leinensack hängen würde, wie sie ihn hinaustrug und in eine Schneeverwehung warf. Dort würde er erfrieren, aber bevor das geschah, würden seine Beine pulsieren und schreien.
    »Es ist nur, mein Vater hat mir immer eingeschärft, meine Brieftasche stets im Auge zu behalten«, sagte er und
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