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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ein aus Flußsteinen gemauerter Ofen geplatzt? Das hatte man noch nicht gehört. Dafür aber gab es Öfen, die schon über hundert Jahre treu ihren Dienst erfüllten.
    Masuk, Rudenko und der immer stille, wortkarge Goldanski streiften ihre Plastikmäntel ab, steckten die Strickmützen unter die Sättel und banden die Gäulchen von den Bäumen los. Als sie aufsaßen und die Pferde unter ihnen tatendurstig trippelten, sahen sie aus wie brave Bauern, die gerade von ihren Feldern kamen – und nicht wie verschworene Genossen, die eben einen Damm für einen neuen Kanal gesprengt hatten.
    Wieder sah Rudenko auf seine verbeulte Aluminiumuhr.
    »Neun Uhr und achtundvierzig Minuten«, sagte er und steckte die Uhr wieder weg. Die Zügel zog er an und stellte sein Pferd ruhig. »Laßt uns bis zehn Uhr warten!«
    »Verrückt macht er mich mit seiner Uhr!« schrie Masuk, aber er verzog dabei sein Gesicht zu einem Lächeln. »Wie ist das, Boris Jakowlowitsch, wenn's bei dir in den Därmen brummt? Auch nur zur vollen Uhrzeit die Hosen runter? Oder geht's in die Hosen hinein?«
    »Was versteht ihr schon davon?!« Rudenko winkte ab. »Nur große Dinge hängen an der Uhr. Heute ist für uns alle ein besonderer Tag.«
    Mit einem Achselzucken wendete Masuk sein Pferd, ritt im Kreise um seine beiden Kameraden herum und wartete so, bis Rudenko seine Uhr wieder hervorholte und sagte:
    »Noch drei Minuten, Brüder …«
    »Verstehen kann man jetzt, warum Boris Jakowlowitsch nie eine Frau bekommen hat!« rief der stille Goldanski aus. »Welch ein Weibchen macht das schon mit? Steht mit der Uhr in der Hand vorm Bett und sagt: ›Noch zwei Minuten, Liebchen, dann wird's gemacht!‹ Da trollt sich doch jede davon.«
    Erschöpft von soviel Redefluß beugte sich Goldanski über den Nacken seines Gäulchens und tätschelte es. Gut reden hatte er; sechs Kinder hatte ihm seine Frau Antonia geboren, zwei Mädchen und vier Jungen. Groß waren sie jetzt schon und bis auf den jüngsten Sohn in alle Welt verstreut. Die Jugend wollte weiterkommen; in Lebedewka indessen gab es keine andere Möglichkeit, als so zu leben wie die Vorväter: das Land bebauen, Fische fangen, am Bau von neuen Straßen mithelfen, die Wälder ausroden oder in einer der umliegenden Sowchosen mitarbeiten … ist das ein Lebensziel für junge kräftige Menschen? So war es jedenfalls bisher gewesen. Nun allerdings hätte es Arbeit genug gegeben, gut bezahlte Arbeit sogar: Der seit Jahrzehnten geplante große Kanal von Belogorje am Zusammenfluß der sibirischen Ströme Ob und Irtysch bis hinunter in den tiefen Süden am Aralsee und noch weiter bis in die Wüsten nach Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan, bis zu den Flüssen Syrdaja und Amudarja sollte endlich Wirklichkeit werden. Ein gewaltiges, auf dieser Welt einmaliges Werk: Ein Teil der unermeßlichen Wasserfluten von Ob und Irtysch sollte rückwärts fließen, nicht mehr ins Nördliche Eismeer, sondern nach Süden, in die Kalmückensteppe, in das trockene Land zwischen Aralsee und Kaspischem Meer. Ein Kanal, zweihundert Meter breit, fünfzehn Meter tief, mit einer Länge von zweitausendfünfhundertfünfzig Kilometern, vom Anfang bis zum Ende mit Schiffen befahrbar … der größte Wasserweg der Welt.
    Hier hielt man die Zukunft Sibiriens in der Hand. Hier entstand von Menschenhand schier Unglaubliches. Hier wurde das Gesicht der Erde verändert. Hier griff der Mensch massiv in Gottes Schöpfung ein. Aber hier gab es auch Arbeit für Hunderttausende.
    Nur den Goldanski-Kindern nutzte diese ungeheure Zukunft wenig. Sie suchten sich ihre Zukunft in der Ferne, denn was soll man mit einem Vater anfangen, der gemeinsam mit Freunden und der zusammen mit anderen Gruppen Gleichgesinnter zwischen Tobolsk und Tjumen alles in die Luft sprengte, was mit dem Kanalbau zu tun hatte.
    »Ihr verhindert es ja doch nicht!« hatte der älteste Sohn Ilja beim Abschied gesagt und an seine Stirn getippt. »Ihr gegen Moskau … Idioten seid ihr alle. Denkt an mich, wenn der Kanal am Tobol vorbeifließt. Wie kann eine Mücke einen Ochsen aufregen?«
    »Aber wenn eine Bremse ihm in die Nüstern sticht, tanzt er!« hatte Goldanski entgegnet. »Und wir werden stechen, mein Söhnchen. Noch viel hören wirst du von uns …«
    »Jetzt!« sagte Rudenko laut und steckte die Uhr wieder ein. »Zehn Uhr.«
    Er gab seinem Pferd leicht die Hacken und ritt als erster in den Wald hinein. Bis Lebedewka waren es noch gut zwanzig Werst, immer zwischen den Bäumen
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