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Shadow Touch

Titel: Shadow Touch
Autoren: Marjorie M. Liu
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hartnäckig. Schließlich aber spürte Elena doch eine Reaktion, eine subtile Bewegung, ein Sammeln von Kräften rund um den Krebs in Olivias Hirn. Wie kleine Zähne, die den Tumor wegnagten. Schon heute würde es kein weiteres Anschwellen mehr geben. Das Mädchen würde erheblich länger leben als nur eine Woche, länger auch als zwei, und in drei Wochen, was die Erwartungen aller bereits weit überstieg, würden die Ärzte einen neuen Gehirnscan durchführen und feststellen, dass der Tumor starb, das Hirn heilte und das Kind schon wieder glücklicher war.
    Elena flüchtete sich in ihren Körper zurück, und sofort drangen wieder die Geräusche an ihre Ohren: die Schwestern, die im Flur vor Olivias Zimmer plauderten, das Klicken und Piepen der lebenserhaltenden Geräte, das Quietschen der Rollen unter den Krankentragen. Irgendwie kam es ihr vor, als sähe das Mädchen schon jetzt besser aus; ihre Wangen waren rosa.
    Die Männer, die den Raum betraten, hörte Elena nicht. Sie fühlte nur einen scharfen Stich zwischen ihren Schulterblättern, der ihr merkwürdig vorkam, denn auf dem Bauernhof war sie immer sehr vorsichtig und verzog sich nur selten einen Muskel. Im nächsten Moment sank sie zu Boden, unfähig, sich auf den Beinen zu halten oder auch nur irgendwo festzuklammern.
    Hände packten sie. Raue, kräftige Hände. Sie hoben sie hoch. Ihre Kehle war wie betäubt. Sie sah weiße Kittel, hart blickende Augen.
    O nein, dachte sie, noch wach genug, um Furcht empfinden zu können, sie haben mich gefunden.
    Dann wurde Elena weggetragen.

1
    Die Nachrichten nannten die Verbrechen einen Auswuchs des Terrors, aber das war nur noch ein Klischee, eine überstrapazierte Beschreibung, die ihre Macht schon lange verloren hatte, weil es viel zu viel Terror in der Welt gab, zu viele Albträume. Artur Loginov war sich ziemlich sicher, dass die einzigen Worte, die die Gewalt, auf die er blickte, beschreiben konnten, dem poetischen Vokabular eines Wahnsinnigen entspringen mussten. Es war ein literarisches Unterfangen, zu dem er sich berufen fühlte, auch wenn er am Ende seinen Verstand dabei verlieren würde.
    Was, wie er hoffte, noch einige Jahre auf sich warten ließe.
    Trotzdem empfand Artur einen Moment lang Furcht, als er zwischen den feuchten, verschimmelten Wänden stand, während eine nackte Glühbirne an der Leitung von der Decke hing. Er stellte sich den ersten Augenblick dieser schnellen Vergewaltigung vor, eine anhaltende Entwürdigung mit dauerhaftem Schmerz. Er zwang sich, sich den echten Terror auszumalen, der in den Blutspritzern auf dem Zement hinter ihm zu lesen war. Und er überlegte, wie es sich anfühlen mochte, allein zu sterben, allein mit seinem Mörder.
    Diese besonderen Erinnerungen veränderten sich nie, ganz gleich, wie die Umstände aussahen oder wer das Opfer war. Seine Gabe war ein Fluch.
    »Kommst du klar?«, wollte Dean wissen. Er stand neben der Treppe und hielt eine Papiertüte in der Hand. In dem
    trüben Licht wirkte sein Gesicht eingefallen und das blonde Haar glanzlos. Er sah aus, als wäre ihm übel, und sein Mund schien vor Ekel und Wut verzerrt. Dean hatte immer Schwierigkeiten, die Distanz zu einem Fall zu wahren. Artur fragte sich unwillkürlich, wie wohl sein eigenes Gesicht gerade aussah.
    »Wie viel Zeit haben wir?«, erkundigte er sich und ignorierte Deans Frage. Auf die dieser wohl auch eigentlich keine Antwort erwartete. Er stellte diese Frage immer, wenn sie zusammen an einem Fall arbeiteten. Es war ein Ritual, eine Tradition. Dean hielt sich zwar so gut wie nie an die Regeln, aber in diesem einen Punkt blieb er berechenbar. Wie Artur, der jetzt nicht in diesem Raum sein wollte und nach seiner Berührung förmlich schrie. Noch vor gar nicht so langer Zeit hätte er sich von einer solchen Szenerie abgewandt, hätte ihr den Rücken gekehrt und wäre geflohen, auch wenn das bedeutete, einen Mörder auf freiem Fuß zu lassen.
    Diese Tage waren jedoch vorbei, und obwohl sein Wunsch wegzulaufen, noch sehr lebendig war, wurde er jetzt von einem Ziel gedämpft, von der moralischen Faser, die seine Arbeitgeber in ihm erkannt und ermutigt hatten.
    Arbeitgeber, Freunde, Familie ... Gibt es jetzt überhaupt noch einen Unterschied zwischen diesen Begriffen?
    Nein, beantwortete Artur die Frage. Nicht bei Dirk und Steele, die so viel mehr waren als eine schlichte Detektivagentur, so viel mehr als das, was sie der Öffentlichkeit zeigten. Die Organisation musste die Fassade wahren, die Lügen
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