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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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Tod aussprechen. Wir sind alle Kinder Gottes. Er war einfach kein Selbstmörder. Das wäre ihm zu feige vorgekommen, die nächste Niederlage, als Feigling vor Gott zu stehen. Aber er hatte gedacht, wenn er jetzt im Sturm abfährt und einfach beim Fahren die Augen schließt, dann ist das nicht mehr in seiner Verantwortung.
    Aber dem Sturm schien es wie ihm zu ergehen. Er hatte sein Pulver verschossen. Er war nur noch ein Schneesturm unter anderen, er hörte auf, verschwand, hatte keine Lust mehr, keine Luft mehr, keinen Wind mehr, der Schnee ging ihm aus.
    Der Sturm war schon so schwach, dass Ödön das Sonnbühel von hier aus sehen konnte. Er war zu spät, es war zu spät. Er hatte zu lange in diesem Beichtstuhl gekniet, tief in seinem Leben. Ödön suchte sein Handy. Er tippte ein paar Zeilen. Schaute auf die Uhr. Auf den Himmel. Gleich wird es dunkel sein. Die Sonne untergehen. Sonnenuntergang. War sie nicht schon längst untergegangen? Er hatte sich entschlossen, nicht über das Sonnbühel zu fahren. Er schnallte seine Ski an und stieg in aller Ruhe und Langsamkeit die Ehrenbachhöhe hinauf, um dann über die Ochsalm abzufahren ins Tal. Was wäre passiert, fragte er sich, wenn die Leute gedacht hätten, die Hölle liege nicht unter der Erde, sondern hier oben zwischen den Gipfeln, und ihr Feuer wäre Kälte?

22
    »Wenn es dunkel ist, werden wir ihn nicht mehr lebend finden, er wird in der Dunkelheit erfrieren.« Yvonne heulte nicht, sie sprach ganz langsam, leise, man verstand sie kaum in dem Lärm, der immer stärker wurde, die Ausgelassenheit der Gäste, die den Sturm durchgetrunken hatten, ihn weggetrunken hatten, am liebsten auf den Tischen getanzt hätten und diese traurige Ecke, in der Yvonne saß, ausblendeten, mit einem schwarzen Vorhang zugezogen hätten. Wie konnte eine weinen, wenn alle lachten?
    »Und jetzt ist auch noch mein Mann weg. Sie sind beide weg. Und wenn …«, sie hielt inne, wollte nicht aussprechen, was ihr auf der Zunge lag, wollte es nicht aussprechen vor Bonnie, nicht vor Lord und Scotty. Sie war müde, fühlte sich taub, von Taubheit befallen, hatte all die Fragen Bonnies beantwortet, diese erniedrigenden Fragen. Wie konnten sie Fragen stellen, während ihr Kind in Lebensgefahr war, als wäre es nicht dort draußen im Schnee, sondern im Gestern, in der Vergangenheit, als wäre es in ihrer Ehe verloren gegangen, verschwunden, als wäre ihre Ehe in einen Schneesturm geraten, in dem ihr Kind nicht mehr zu finden war. Und wenn sie schuld war, wenn sie schuld wäre, wenn sie beide schuld wären, wäre die Schuld etwa ein Wegweiser, ein Pfeil auf ihrem Navigationssystem, der zeigte, da ist Igor? Als könnten sie ihn über die Schuld wie ein verlorenes iPhone finden. Da könnten sie genauso gut hier unter den Tischen suchen, ja, lasst uns unter den Tischen suchen, in der Küche, Kinder spielen gerne Verstecken, Igor liebt es, er hat das tollste aller Verstecke, deshalb mag er es nicht aufgeben, deshalb hält er die Luft an.
    Er hat sich in meinem Herzen versteckt, jeder vermutet ihn da, aber keiner schaut nach. Igor ist gar nicht weg, er ist bei mir. Ich darf ihn nicht verraten, ich darf ihnen nicht verraten, dass er bei mir ist. Sie sollen ihn weitersuchen.
    Etwas ist seltsam an der Kommissarin, dachte Yvonne, sie hat größere Angst als ich. Warum nur? Weiß sie mehr? Nein, sicher nicht.
    »Wir sind mit Ihrem Mann über Funk verbunden«, unterbrach Bonnie Yvonnes Gedanken und wusste auch nicht mehr und nicht mehr weiter. Die Zeit rannte davon. Wie lange konnte das Kind überleben, wenn es sich verletzt hätte und im Schnee liegt? Wenn es sich in Sicherheit gebracht hätte?
    »Der Sturm hat nachgelassen«, Scotty war erleichtert, »wir können weitersuchen.«
    »Wir werden sofort alle Suchtrupps mobilisieren«, bestärkte Bonnie.
    »Man sollte es an alle Hütten weitergeben«, insistierte Scotty, »die Leute werden alle abfahren, solange sie noch etwas sehen können. Sie müssen alle beim Suchen helfen, alle müssen die Augen aufsperren. Sie müssen einen Rundruf starten, die Radiosender verständigen. Wir finden den Jungen, das sage ich nicht einfach so. Wir finden ihn. Ich habe es im Blut.« Scotty sprang auf. Er, dem die Decke auf den Kopf fiel, der am liebsten überall gleichzeitig gewesen wäre und gesucht hätte, er wusste: es konnte jetzt um Minuten gehen.
    »Es ist besser, wir lassen Sie runter in die Stadt fahren und verlegen die Zentrale nach unten. Dort können wir die Suche
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