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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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Schulterblätter, tief ins Fleisch hinein wie Messer, mein Engelchen, mein Engelchen, was weinst du, warum bist du nur so traurig, Engelchen, Kullertränchen, komm doch zu uns rüber, ins Bett, leg dich zwischen uns, verweichliche den Jungen nicht, dreh die Heizung in seinem Zimmer ab, dann schläft er besser, zieh ihm die Socken aus, das Elternschlafzimmer, da kommt das Christkind, da darfst du nicht rein. Ich wollte, dass sie mich in ein Internat stecken, dass ich frei von ihnen bin, dass ich sie aus der Ferne lieben kann, ich träumte von einem Internat, von Schlafsälen, Freunden, Jungs, die zusammen Sport machen, Abenteuer erleben, heimlich rauchen, kiffen, knutschen, Jungs, die keine Eltern brauchen, harte Jungs, weiche Jungs, nicht alleine schlafen müssen, nicht die Geräusche der Eltern hören müssen, nicht Sohn sein, nicht Kind sein, Herr Pater, ich wünschte meine Eltern tot, ein Autounfall, ein Flugzeugabsturz, ein Virus, in Quarantäne, weggesperrt, hoffte, sie würden meinen Vater verhaften wegen betrügerischer Geschäfte, Pyramidengeschäften, Schneeballsystemen, aber er war nie der Abzocker, sondern immer nur der Abgezockte, er hatte nicht den langen Atem, er kam zu kurz, war immer zu kurz gekommen. Ich hätte ihn auch umbringen können, dann wäre ich ins Heim gekommen, besser ins Heim als dieses Elternhaus sein Heim nennen. Schon als Kind spielte ich ausziehen, wegziehen, ins Internat ziehen, spielte davonlaufen, ausbüchsen, abhauen, ausbrechen, versteckte mich im Keller, kauerte mich in ein Ecke und träumte, ich wäre in einem Lastwagen, in einem Zugabteil, einem Kofferraum, einem Container, unter Deck, nur weg von hier, und wenn ich die Augen öffne, bin ich in Amerika, die Freiheit, die Weite, nichts als Weite, alles hinter mir lassen, meine Eltern. Warum soll ich sie ehren? Mein Vaterland, meine Muttersprache, die Mutter Kirche, den Vater Abt, die Muttermagermilch und die Vatermorgana? Ich wollte keine Kinder, aber dann wurde ich Vater, selbst Vater, verstehen Sie, Pater. War ich ein besserer Vater? Soll es nicht heißen, du sollst deine Kinder ehren? Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all, das singt ihr doch, Pater, nicht, ihr Kinderlein kommet. Und sie kommen, die Schar zu den Heiligen, die Esel zu den Ochsen, die Kälber zu den Stieren. Ich habe meinen Sohn ins Internat gegeben. Er wollte es nicht. Meine Frau wollte es nicht. Ich wollte es. Er sollte dort sein, bevor ich wie mein Vater wurde. Ich musste mich von ihm trennen, solange ich ihm noch der Vater war, den er sich wünschte, den er lieben konnte, den er nicht hassen musste. Sollte er andere hassen. Aber ich vermisste ihn, vermisste ihn so stark, ich vermisse ihn, ich kann nicht leben ohne ihn. Ich habe ihn früher wenig gesehen, aber, er war da, zu Hause. Als ich mit dem Lift hochfuhr, hier hochfuhr, saß ein Junge neben mir, ein kleiner Junge, so alt, wie auch mein Sohn einmal war. Ihm war ganz kalt, er fror, er fürchtete jede Berührung, jeden Körperkontakt, aber dann rutschte er zu mir, unwillkürlich. Ich wollte meinen Arm um ihn legen, ihn wärmen, ihn beschützen. Er sprach vor sich hin, sprach in seinen Helm hinein, er merkte gar nicht, dass ich hörte, was er sagte, dass ich ihm zuhörte. Er zerbiss seine Skimaske mit seinen Worten, er sprach ein Loch durch die Maske, er war unglücklich, ein unglücklicher, kleiner Junge. Ich wollte ihn mitnehmen, ihn zu meinem Jungen machen, ihm ein Vater sein, ab heute bin ich dein Vater, ich bin dein Vater, Junge, ich bin für dich da, ich bin für alles da, ich lass dich nicht allein, lass dich nie wieder alleine, ich pass auf dich auf, Tag und Nacht, dir wird nichts geschehen, du musst keine Angst haben.«

18
    »Bonnie, hörst du? Warum gehst du nicht ran? Sie haben im Sonnbühel gesagt, du seist raus in den Sturm, mit diesem Galeristen und dem Vater des Kindes. Meinten sie zumindest. Bist du verrückt? Warum sagst du mir nichts?!« Schatterer wollte ins Telefon schreien, zumindest sein Handy anschreien, wenn er ihr schon nicht ins Gesicht schreien konnte. Aber hier hätte er schreien müssen, um sein eigenes Wort zu verstehen, denn die Party war im vollen Gange, eine Party wie vor dem Ende der Welt, als wäre der Barock zurückgekommen und unter jeder prallen Brust lauerte ein Skelett, die Haut würde abfallen und es wäre der einzige Totentanz. Aber bis dahin wollten sie spüren, was zu spüren war, ein Tanz im Sturm, im Angesicht der Lawine, die die Streif hinunter und auf
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