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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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beglückten ihn mit jenem Schmerz, den er seit seiner Kindheit kannte und der ihm treu geblieben war, egal welche neue Techniken sie erfanden, egal, wie viel Geld er ausgegeben hatte, der Schmerz hatte das Rennen immer schon gewonnen und war vor ihm ins Ziel eingelaufen.
    Aber jetzt war es Ödön egal, er erinnerte sich, wie er, nachdem er alles verbrannt hatte, einfach nur loswollte, er schwitzte den Hang hoch, brach immer wieder ein, bis er endlich oben an der Kante war und auf der Abfahrt. Der erste Meter war immer ein Wunder. Er hatte die Piste noch fast für sich, musste lediglich einem Skikurs ausweichen, der überraschend querte. Ein Junge, das sah er noch aus den Augenwinkeln, blieb an der Kante stehen, sein Heulen trug der Wind bis zu ihm.
    Wie oft, dachte Ödön, hatte er auch heulend mit halberfrorenen Fingern und Füßen an dieser Stelle gestanden und sich den Befehlen seines Großvaters mit bockigen Kullertränen widersetzt, die auf den Wangen festfroren und den Schmerz noch unerträglicher machten.
    »Pater, wie sollte ich Vater und Mutter ehren, wenn sie mich nicht ehrten? Wie sollte ich sie lieben, wo sie mir nicht beibrachten, mich selbst zu lieben? Haben sie mich erzogen, dass ich menschlich und religiös reife? Was ist religiöse Reife, Pater? Was ist die religiöse Reifeprüfung? Wissen Sie, was wir in den Beichtstühlen gemacht haben? Wir haben uns einen runtergeholt unter dem Ministrantengewand. Das war unsere Mutprobe. Gott schaut in dein Herz, aber schaut er auch unter den Rock? Wir waren pubertierende Jungs. Natürlich hatten wir Angst vor dem Tod, vor der Todsünde, im Gotteshaus ein Geschlecht zu haben und die Vorhaut nach hinten zu schieben für die endgültige Nacktheit vor dem Herrn. Ekelt Sie, Pater? Mich widert es an, wenn ich es Ihnen heute erzähle. Warum hatte unser Pfarrer nichts gemerkt, warum hatte es keiner von uns gebeichtet? Hatten wir wirklich alle dichtgehalten? Hatte keiner das Wort gebrochen? Hatte jeder immer weitergelogen? Denn wir mussten beichten, wöchentlich. Hat jeder von uns es verschwiegen und gelogen, nichts gesagt? War es unser eigenes Beichtgeheimnis? Oder wusste der Pfarrer alles? Wir steigerten den Kitzel. Wenn wir zur Beichte knieten, öffneten wir vorher unsere Hosenschlitze und ließen ihn raushängen. Hat der Pfarrer das alles nicht gesehen? War es sein Großmut? Pubertierende Jungenstreiche? Was hätte mein Vater gemacht? Hätte er mich geschlagen, von der Schule genommen, auf den Bau geschickt, ins Internat gesteckt? Oder hätte er mir auf die Schulter geklopft, ja, Junge, wichs auf die Pfaffen, diese Schwanzlutscher. Ich weiß es nicht, ich kenne meinen Vater nicht. Ich ehrte ihn wie einen Fremden. Ich habe ihn nicht geehrt, Herr Pater, ich habe ihn enttäuscht, sein Leben lang enttäuscht, denn es gab keine Ehrungen, nach denen ich aufs Podest gerufen worden wäre, keine Pokale, keine Buchpreise. Ich blieb einfach unter seinem Niveau, weshalb er mich nicht sehen konnte. Er ließ mich einfach, da stand ich gerade auf den Skiern, auf eine Schanze zufahren, wollte, dass ich keine Angst vor dem Springen habe, dass ich dünn bleibe, damit ich besser springen kann, dass ich schnell bin als Flügelstürmer, wollte, dass ich Klassen überspringe. Ich kam mir immer so vor wie ein Zwerg, dem man den Stab eines Riesen zum Hochsprung in die Hand drückt, einen Stab, der ihn zu erschlagen droht, den er kaum halten kann, geschweige denn ihn dazu zu nutzen, in die Luft und über die Stange katapultiert zu werden. Und dann schaff ich es doch, ich fliege, bin in der Luft, aber die Stange schiebt sich nach oben, ich sah mich sie schon überqueren, mich auf den Rücken drehen, aber ich segle wieder unten durch, lande auf dem Rücken, breche mir das Kreuz, hebe am Schanzentisch zu spät ab und krache in die Tiefe, oder eine Böe trägt mich weg, weit weg, ich komme nie wieder zurück. Wie ein Mädchen musste ich Seilspringen, Boxer springen auch Seil, motivierte er mich, während die anderen mich auslachten und gar nicht wussten, wie schwer das war, zieh doch ein Röckchen an, man sieht ja deine Strumpfhose. Ich brach mir das Sprunggelenk, als ich so alt war wie mein Sohn. Es war das Aus, mitten in der Pubertät, Metallplatten, Schrauben, Gips. Leistungssport ade, der verlorene Sohn, der Verlierer, von Arzt zu Arzt, bei jeder OP wurde es schlechter und mein Vater wütender. Er brach mit mir, als mein Gelenk brach. Ich spüre ihn, wenn das Wetter wechselt, wenn es kälter
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