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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil
Autoren: Holger Wuchold
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war nichts als sein Spiegelbild gewesen.
    Er bog von der Fulham Road links ab, geradewegs auf die Town Hall in der King’s Road zu. Das eher triste Innere des Standesamtes von Chelsea hatte er einmal als Trauzeuge kennen gelernt. Die Braut kam aus Kroatien und arbeitete in Willems damaligem Stammlokal in Fulham. Den Bräutigam, einen Serben, sah er auf der Trauung zum ersten Mal. Nach der kurzen, etwas holprigen Zeremonie fuhr man gemeinsam im Taxi nach Soho. Ein gemeinsames Pint in einem Pub war die ganze Hochzeitsfeier. Ein paar Monate später sah Willem die Kroatin – sie war kaum älter als neunzehn Jahre – zufällig wieder, ebenfalls in Soho. Sie war in Begleitung eines angetrunkenen Mannes, der gut doppelt so alt war wie sie. Obwohl sie einander sofort erkannten, gingen sie aneinander vorbei, ohne sich eines zweiten Blickes zu würdigen. Willem versuchte sich eine Weile an ihren Namen zu erinnern – vergeblich.
    Die King’s Road war voller hübscher Mädchen, die von Boutique zu Boutique stürzten oder einfach mit schnellen weiten Schritten die Straße hinuntergingen, was sie in Willems Augen noch attraktiver machte. Etwa zwei Ecken hinter der Town Hall Richtung Sloane Square ließ er sich in einem Straßencafé auf einen Espresso nieder. Eigentlich war es kein richtiges Café, sondern mehr eine Pizzeria, die bei gutem Wetter draußen ein paar Stühle aufstellte. In der ersten Etage, direkt über dem Café, war eine Modelagentur untergebracht. Ein alternder Rockstar, der in Chelsea wohnte, hatte in einem Interview von den jungen Schönheiten erzählt, die in der Agentur ein- und ausgingen. Jedes Mal, wenn Willem das Haus passierte, erinnerte er sich daran. Die meisten Beauties waren ihm aber zu jung, zu schön, zu langbeinig, als dass er sich erlaubt hätte, über ihre Hingabe nachzudenken. Er genoss den Anblick perfekter Schönheit, mehr nicht.
    Vor »McDonald’s« bettelte ihn ein Penner um Kleingeld an. Willem war sich sicher, dass ihn der Penner aus der Masse der Passanten rausgepickt hatte, aus welchem Grund auch immer. Immer pickten sich diese Gestalten Willem heraus, mochte der Menschenauflauf auch noch so groß sein. Er hasste Penner, wie er Montage hasste, sie störten den abzutauchen und mit seinen Sinnen und Gedanken in eine andere Welt zu entschwinden. Vor allem der Augenblick, wenn Willem das Kino verließ, war ihm ein Hochgenuss. Die Neige des Tages kündigte sich an. Die meisten Passanten versuchten die verbleibende Zeit für eine dringende Erledigung zu nutzen, während er sich, noch ganz erfüllt von den gerade gesehenen Geschichten und Figuren, erst allmählich an die reale Welt wieder gewöhnen musste. Dann war er mit sich ganz zufrieden. Die anderen, die sich dieses Vergnügen nicht leisten konnten oder wollten, bedauerte er nicht. Für sie hatte er nur Verachtung übrig.
    Die meisten Nachmittage verbrachte Willem aber damit, durch Londons Straßen spazieren zu gehen, stundenlang. Die Bewegung war ein Sehen, Denken, Ablenken, Vergessen, aber auch ein Ersatz für das Leben, und vor allem ein Suchen, immer in der Hoffnung, dass etwas geschieht, das seinem Leben eine andere Richtung geben könnte, etwas, mit dem sein Leben erst eigentlich beginnen würde, das richtige Leben, in dem auch er lebte und handelte wie die Figur eines Romans oder Films.
    Diesen Nachmittag wollte er auf der King’s Road verbringen. Er liebte die Straße ihrer gespielten Geschäftigkeit wegen, die sich nur um sich selbst und den Konsum von schönen Dingen drehte. Er warf einen flüchtigen Blick in die Auto-Vertretung gegenüber der U-Bahn-Station South Kensington, in der nagelneue Bentleys und Rolls-Royces mit ihrer Wucht und ihrem Chrom protzten, und schwamm dann im allgemeinen Verkehr auf das Michelin-Haus in der Fulham Road zu. Hier war es nicht ganz so eng und laut. Die meisten Geschäfte boten überteuerte Antiquitäten an. Willem schauderte geradezu vor der biederen Behaglichkeit der mit Messing besetzten Mahagoni-Möbel.
    Dann glaubte er, in einem Schaufenster doch irgendetwas entdeckt zu haben. Er kehrte um, sah nichts, sah wieder hin. Doch es war nichts als sein Spiegelbild gewesen.
    Er bog von der Fulham Road links ab, geradewegs auf die Town Hall in der King’s Road zu. Das eher triste Innere des Standesamtes von Chelsea hatte er einmal als Trauzeuge kennen gelernt. Die Braut kam aus Kroatien und arbeitete in Willems damaligem Stammlokal in Fulham. Den Bräutigam, einen Serben, sah er auf der Trauung
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