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Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel

Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel

Titel: Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel
Autoren: Kira Maeda
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war. Zuvor hatten die beiden Halbgeschwister viel Zeit miteinander verbracht, und wenn sie auch verschiedene Väter hatten, so war Shin doch immer ihr großer Bruder gewesen.
    Das Verhältnis war über die Jahre und trotz der Kilometer nie abgebrochen. Zwar wurden die Anrufe und E-Mails seltener, aber mindestens einmal im Monat bekam Isabelle Nachricht aus Tokio. Bis diese Meldungen plötzlich ausblieben. Anfangs hatte sie sich noch nichts dabei gedacht. Nach dem zweiten Monat war sie jedoch unruhig geworden. Ihre Anrufe nahm nur noch der Anrufbeantworter entgegen, bis auch der eines Tages verstummte. Isabelle hatte daraufhin die Koffer gepackt und ein Flugticket nach Japan gekauft. Ihre Freundin Julia, mit der sie zusammen eine Event-Agentur leitete, hatte sich bereit erklärt, in der Zeit auf ihre Wohnung aufzupassen. Isabelle wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis sie Shin fand. Wenn sie ihn denn fand … Sie schüttelte den Kopf. Nein, so durfte sie nicht denken! Im Augenblick musste sie sich auf die Suche nach ihrem Bruder konzentrieren.
    Isabelle blieb stehen und suchte nach dem Schild, das auf die Bahnstation verwies. Sie überquerte die Straße mit mindestens hundert anderen Menschen. Man wurde von der Menge einfach mitgerissen. Auf ihrem Weg durch die Straßen Tokios kam sie an den verschiedensten Imbissbuden vorbei. In der schweren, erhitzten Luft trafen sie die exotischen Gerüche von frittiertem Gemüse, gebratenem Fleisch und Crêpes umso stärker, und Isabelle hörte ihren Magen deutlich knurren. Sie zwang sich aber weiterzugehen. In Deutschland war gerade Mittagszeit, aber sie hatte keine Zeit, um sich in eine der Buden zu setzen; sie musste sich beeilen.
    Ihre hohen Schuhe klickten auf dem Asphalt, als sie ihren Schritt beschleunigte. Bald kam auch der Bahnsteig in Sicht. Isabelle ging die Betontreppe hinauf und fand sich auf einem sehr schmalen Steg mit mehreren Japanern wieder. Die meisten hörten Musik oder tippten etwas in ihre Handys, einige andere unterhielten sich. Hier und da konnte sie einen vertrauten Wortfetzen auffangen. Shin hatte ihr damals ein wenig Japanisch beigebracht und sie immer wieder mit japanischem Rock und Pop versorgt. Für Isabelle war es damals ein lustiges Spiel gewesen, die fremden Schriftzeichen und Worte zu lernen. Der Unterricht lag viele Jahre zurück, aber im Stillen dankte sie ihrem Bruder dafür. Ohne jede Sprachkenntnis wäre sie wohl vollkommen hilflos bei ihrer Suche.
    Ein Glöckchen ertönte, eine Frauenstimme wies auf den ankommenden Zug hin, und es kam Bewegung in die Menschenmenge. Mit lautem Hupen fuhr der Zug ein. Als er hielt, strömten die Menschen zielstrebig hinein. Isabelle folgte ihnen einfach, erhaschte dabei einen Blick auf den Namen der Bahn und entspannte sich ein wenig. Sie war richtig.
    Isabelle atmete tief ein. Im Zug gab es eine Klimaanlage, aber durch die Menschenmenge im Waggon war davon kaum etwas zu merken. Sie hielt sich an einer Haltevorrichtung fest, merkte aber, wie sich immer mehr Personen hineindrängten, so dass sie sich kaum noch bewegen konnte. Endlich schlossen sich die Türen, und Isabelle tat dasselbe für einen Moment mit ihren Augen, um das Gefühl aufsteigender Panik, hervorgerufen durch die Enge, zu bekämpfen. Die schwüle Hitze hatte ihren Körper bereits wieder mit einer feinen Schweißschicht überzogen, und sie wurde durch das Ruckeln der Bahn immer wieder sanft gegen die Haltestange gepresst.
    Sie hatte niemals unter Platzangst gelitten, aber die Unruhe in ihr wurde stärker. Vielleicht sollte sie an der nächsten Haltestelle aussteigen und auf einen weniger vollen Zug warten? Aber vielleicht würde es dann nur noch voller werden?
    Hoffnungsvoll sah sie auf. Über ihr war eine Anzeigetafel angebracht, die sowohl in japanischer als auch englischer Schrift die nachfolgenden Haltestellen anzeigte. Sie zählte nach – noch fünf Bahnhöfe.
    Der Zug fuhr in die nächste Station ein, und ein Großteil der Leute stieg aus. Isabelle gewann mehr Platz und seufzte erleichtert, als der Zug wieder anfuhr. Hoffentlich war die Fahrt bald vorbei.
    Um sich die Zeit zu vertreiben, sah sie aus dem Zugfenster. Glitzernde Hochhausfassaden rasten in raschem Wechsel an ihr vorüber. Der Anblick lullte sie ein. Wenn es nur nicht so heiß gewesen wäre!
    Verstohlen fuhr sie sich mit der Hand über den schlanken Hals. Die Berührung sandte Schauer durch ihren Körper. Die Schwüle schien jeden Gedanken zu ersticken. Isabelle
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