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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
Autoren: Jana Simon
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meine Stiefmutter Feechen sagte laut: »Na, die deutschen Frauen können ja stehen, wenn die Juden sitzen!« Ich fand das grässlich. Das war doch ein alter Mann.
    CW     Ich habe gesehen, wie die Synagoge in Landsberg brannte. Es ist mir heute noch unbegreiflich, wie ich davon erfuhr. Diese Szene habe ich auch in Kindheitsmuster beschrieben. Jedenfalls bin ich in die Altstadt gegangen. Ich trug einen Trainingsanzug, und da brannte die Synagoge. Das Bild, das ich behalten habe: Männer in langen Gewändern, mit Schläfenlocken und Käppis auf dem Kopf, die ich zuvor noch nie gesehen hatte, retteten Gegenstände, goldene Fässchen, aus der brennenden Synagoge. Es wurde nie wieder darüber gesprochen. Als ich vor kurzem noch einmal in Landsberg war, sah ich, das ganze Viertel ist weg.
    JS     Was hast du damals gedacht?
    CW     Ich hatte Mitleid, ich war ein sehr mitleidiges Kind. In meiner Gegenwart durfte man keine Geschichten erzählen, in denen Unrecht geschah. Ich fing sofort an zu heulen. Als ich Kindheitsmuster schrieb, versuchte ich, die Judenvernichtung für Landsberg einigermaßen zu rekonstruieren. Das gelang mir nur bis zu einem gewissen Grad. Meine Familie war anders als Gerds, wir hatten einen Laden, ein Haus …
    GW     … ihr standet mehr in der Öffentlichkeit.
    CW     Wir standen innerhalb des Kleinbürgertums eine Stufe höher. Gerds Vater war ein kleiner Angestellter, meiner immerhin Kaufmann. Im Grunde hatten sie natürlich dieselbe Mentalität. Mein Vater war sehr kommunikativ. Aber meine Eltern hatten eigentlich keine Freunde. Sie luden keine Leute ein oder gaben Essen so wie wir heute. Das gab es bei uns überhaupt nicht.
    JS     In der Familie wurde nie über Politik geredet?
    CW     Doch!
    GW     Na, mit den Kindern nicht. Mein Vater hat mir ja nicht einmal gesagt, dass meine Mutter gestorben ist. Da gab es eine völlige Sprachohnmächtigkeit, und ich war sehr isoliert, habe viel gelesen.
    CW     Bei uns war es etwas anders. Unsere ganze Familie wohnte in derselben Stadt. Meine Großeltern mütterlicherseits kamen noch weiter aus dem Osten. Meine Mutter wurde in Bromberg geboren. Beide Großväter arbeiteten bei der Eisenbahn, zum Stolz der Familie. Der Großvater, der nach Landsberg versetzt worden war, hatte die großartige Funktion, am Fahrkartenschalter Fahrkarten zu knipsen.
    GW     Die Eisenbahn, die neuen Bahnlinien waren ein großer Industrialisierungsschub.
    CW     Meine Großeltern wohnten in der Kesselstraße in einer Baracke, sie waren sehr arm. Meine Oma hat die Familie durchgebracht, sie hat Ziegen und Kaninchen gehalten und geschneidert. Das wurde mir als Kind natürlich nicht gesagt. Der Vater meiner Mutter, Opa Hermann, ging einmal im Monat seine Rente abholen. Eines Tages war ich dabei, als die Oma ihn entließ, sie sagte: »Komm aber gleich nach Hause!« Einen Schnaps durfte er sich genehmigen, er hielt sich aber oft nicht daran. Eine tiefe Verletzung meiner Mutter war, dass sie sich als Kind von dem Eisenbahninspektor demütigen lassen musste, damit ihr Vater nicht entlassen wurde.
    Meine Mutter kam in die Mittelschule, sie war begabt. Aber mein Vater war ganz besonders begabt für alles, er war in der Volksschule immer der Primus. Sein Lehrer ging zu meinem Großvater und sagte: »Dein Sohn ist so schlau, der braucht die Mittelschule.« Mein Opa entgegnete, das käme gar nicht in Frage, sein Sohn solle nichts Besseres werden, nicht aus der Familie ausscheren. Er hat es meinem Vater nicht erlaubt, aber er selbst konnte kaum lesen und schreiben. Dieser Lehrer hat meinem Großvater Nachhilfe gegeben. Die Familie meines Vaters stammt aus Westpreußen, die Verwandten hatten alle einen kleinen Tülüteti. Wenn sie uns besuchen kamen, war ich vollkommen von ihnen fasziniert, weil sie lauter Blödsinn veranstalteten. Onkel Heinrich zum Beispiel oder Tante Emmi – wenn wir Geburtstag feierten, dann hatte sie immer so ein Pupskissen. Kennst du das? Sie hat sich daraufgesetzt, und mitten in der Familienfeier ging es Kawufff!
    JS     Das heißt, dein Vater war nicht auf der Mittelschule. War das ein Problem?
    CW     Meine Mutter war dort und er nicht. Das hat unterschwellig immer eine Rolle gespielt. Meine Mutter hatte ein bisschen Fremdsprachenunterricht genossen, und wenn mein Vater ein Wort auf Französisch falsch aussprach, hieß es: »Aber Otto!« Er war ja in französischer Kriegsgefangenschaft gewesen. »Bestoß mich doch
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