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Seelenrächer

Seelenrächer

Titel: Seelenrächer
Autoren: G O'Carroll
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August, 21:45 Uhr
    In den Räumen der Kriminalpolizei brannte noch Licht. Am Harcourt Square, südlich des Flusses, saß der neununddreißigjährige Inspector Moss Quinn im fünften Stock über seinen Schreibtisch gebeugt. Er war etwa eins fünfundachtzig groß – ein, zwei Zentimeter hin oder her –, schlank gebaut und an den Schläfen bereits grau meliert. Er trug einen Armani-Anzug. Seinen Krawattenknoten hatte er gelöst, und an den offenen Manschetten seines Hemds hingen goldene Knöpfe.
    An diesem Sonntagabend befand sich außer ihm kein anderer Detective mehr in den Räumen. Während er dort im Halbdunkel saß, sah er wieder Eva auf dem Friedhof vor sich: wie hager und hoffnungslos sie gewirkt hatte, die Leere in ihren Augen. Energisch rief er sich ins Gedächtnis, dass er hergekommen war, um die Akten miteinander zu vergleichen: fünf Frauen – fünf alleinerziehende Mütter, die verschwunden waren und ihre Kinder zurückgelassen hatten. Die Fälle reichten zum Teil sechs Jahre zurück, bis hin zu Janice Long und Karen Brady. Morgen würden er und Detective Murphy deswegen vorübergehend sogar zu einer neuen Einheit in Naas wechseln. Seit dem Scheitern des jüngsten Frauenmordprozesses waren im Dáil – dem irischen Unterhaus – Fragen laut geworden. Zum ersten Mal war Quinns Werdegang öffentlich unter die Lupe genommen worden. Was ihm nicht gefallen hatte. Nein, ganz und gar nicht. Nun aber bekam er vielleicht die Chance, seinen Ruf wiederherzustellen. Um es mit den Worten des Justizministers auszudrücken: Es war an der Zeit, dass diese fünf Frauen endlich die letzte Ruhe fanden.
    Auf Quinns Schreibtisch lag noch eine weitere Akte – jener Fall, der ihn jüngst in die Schlagzeilen gebracht hatte. Murphy hatte vor zwei Tagen nach der Akte gefragt, was ihm aber erst beim Anblick der Halskette, die seine Frau an diesem Vormittag getragen hatte, wieder eingefallen war. Nachdenklich blätterte er die Akte durch, das Kinn auf die Faust gestützt. In der Nacht des Musikfestivals in Listowel war Mary Harrington verschwunden. Die Frau war langsam verdurstet, und Conor Maggs hatte den Mord gestanden.
    Quinn lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Er brauchte die Worte nicht zu lesen, denn er konnte sie wieder hören – so deutlich wie damals während des Mordprozesses, als der Angeklagte seine Aussage machte, nachdem sein Verteidiger ihm die Seiten gereicht und ihn aufgefordert hatte, sie laut vorzulesen.

Conor Maggs’ Geständnis
    Oberster Strafgerichtshof, Dublin
    Montag, 15. April, 14:00 Uhr
    Einen Moment lang saß Maggs einfach nur da. Erst sah er Quinn an, dann fixierte er Sergeant Doyle. Als er schließlich zu sprechen begann, fuhr er sich ständig nervös mit der Zunge über die Lippen, und die Hand, mit der er die Seite hielt, zitterte leicht.
    Vor dem Laden an der Ecke habe ich sie angesprochen. Sie kam aus Jett O’Carroll’s Pub und schwankte mir entgegen, auf hohen Hacken, die aussahen, als würde sie sich damit jeden Moment den Knöchel verstauchen. Kurz darauf sah ich sie ein weiteres Mal: im Schatten der Anwaltskanzlei, wo sie gerade versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden.
    »Hallo«, sagte ich, »du schon wieder. Wir beide laufen uns heute ständig über den Weg.«
    Sie blickte von dem flackernden Zündholz hoch und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen.
    »Ein Stück weiter vorne. Erinnerst du dich? Du bist gegen mich geknallt und musstest dich kurz auf ein Fensterbrett setzen.«
    »Ach, wirklich?«, murmelte sie.
    »Du hattest dich gerade mit deiner Freundin gestritten.«
    »Was du nicht sagst! Und wenn schon? Was geht dich das an?« Sie sah aus, als würde sie gleich vornüberkippen. Ich griff nach ihrer Hand, um sie zu stützen. Sie starrte mich an, blinzelte ein paar Mal langsam, zog die Hand aber nicht weg. Als ich noch einen Schritt näher trat, konnte ich ihr Parfum riechen und oberhalb ihrer Schlüsselbeine den Schweiß auf ihrer Haut glänzen sehen.
    »Wie heißt du?«, fragte ich sie.
    »Mary.«
    »Ich bin Conor«, antwortete ich und lächelte sie an. Ich hielt noch immer ihre Hand. Nachdem ich ihre Handfläche nach oben gedreht hatte, studierte ich die Linien ihrer Haut. »Weißt du, dass du eine sehr lange Liebeslinie hast? Hat dir das schon mal jemand gesagt? Sie ist wirklich stark, schau!« Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Deine Lebenslinie ist allerdings ein wenig kurz geraten.«
    Sie zog die Hand weg, machte jedoch keine Anstalten zu gehen,
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