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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten
Autoren: Michael Theurillat
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Sugo.«
    »Das heißt, Sie gehen nicht hin?«
    »Doch, eben. Bei dem ganzen global warming muss man den Winter austreiben, solange es ihn noch gibt.«
    »Was schätzen Sie, wie lange wird’s dieses Jahr dauern?«
    »Hoffentlich nicht so lange«, sagte Eschenbach.
    Auf dem Weg von der Kasernenstrasse zur Sechseläutenwiese
erfuhr Eschenbach von Elisabeth Kobler, dass eine Delegation deutscher Polizeiobersten eingeladen war. Er hatte seine Chefin abgeholt, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. »Die haben Erfahrung mit Fußballanlässen«, sagte sie. Als Mitglied der Gesellschaft zu Fraumünster, der einzigen Frauenzunft Zürichs, trug die Polizeichefin einen wallenden, dunkelblauen Umhang, unter dem, wenn sie sich bewegte, ein mittelalterliches, mit Brokatbändern verziertes Kleid zum Vorschein kam.
    Eschenbach verkniff sich einen Kommentar zu ihrer Aufmachung, zumal er fand, dass Kobler schlecht gelaunt war und unter ihrer mittelalterlichen Kopfbedeckung aus dunklem Samt geradezu mürrisch dreinblickte. Vielleicht rührte der Unmut auch daher, dass sie dauernd auf ihren Umhang trat.
    Eschenbach tat so, als ob er über alles im Bilde wäre. Vermutlich gab es auch dazu E-Mails, dachte er. Es ging also um die EURO 08  – um die bevorstehende Europameisterschaft, deren Austragung Kobler schon seit Monaten Kopfzerbrechen bereitete.
    Kurz vor sechs saß Kommissar Eschenbach dort, wo er nach seinem Verständnis nichts zu suchen hatte: auf der Ehrentribüne beim Bellevue. Reihe fünf, Mitte.
    »Aufregend, nicht wahr?«, bemerkte der Mann rechts neben ihm. Er deutete auf die Menschenmenge, die den Platz überflutet hatte. »Wann geht es denn los?«, fragte er.
    »Um sechs.« Eschenbach sah auf seine Uhr, dann auf den riesigen Holzberg, der vor ihnen auf der Wiese zum Abfackeln bereitstand. »In fünf Minuten also.«
    Sein Nachbar rieb sich die Hände. Er hatte sich als Lebenspartner von Klaus Wowereit vorgestellt. Wowereit, der zwei Reihen weiter vorne neben dem Zürcher Stadtpräsidenten saß, war als Regierender Bürgermeister von Berlin auch einer der Ehrengäste, mit denen sich die Zunftherren jedes Jahr anlässlich des Sechseläutens schmückten.
    »Jetzt geht’s los!«, riefen einige der Gäste.
    Der Kommissar steckte die Hände in die Hosentaschen. Er sah auf den Scheiterhaufen, der nur mühsam zu brennen begann. Weil es am Morgen noch geregnet hatte, warf der Brandmeister in kurzen Abständen offene Behälter mit Benzin in den brennenden Holzberg. Eschenbach dachte an seine Zeit bei den Pfadfindern und daran, wie verpönt es gewesen war, ein Feuer mit Benzin anzuzünden. »Es wird schon noch«, sagte er.
    »Und das Ganze heißt Sechseläuten, weil es um sechs Uhr beginnt?«, wollte sein Nachbar wissen. Er schien hell begeistert zu sein, und er betonte mehrmals, dass er es schätze, neben einem Einheimischen zu sitzen. Kobler, die links neben Eschenbach saß, hielt sich vornehm zurück.
    Der Kommissar nickte. Und nach anfänglichem Zögern gab er einen kurzen Abriss über das Sächsilüüte, wie es die Zürcher nannten. Über die Schirmherrschaft der Gesellschaft zur Constaffel und die fünfundzwanzig Zürcher Zünfte und den Ablauf der Veranstaltung, die an einem Sonntag Mitte April mit einem Kinderumzug beginnt.
    »Und am Tag darauf, am Montag um sechs Uhr abends, treffen sich alle hier auf dem Sechseläutenplatz beim Bellevue. Dann wird der Böög verbrannt.«
    »Es geht also um diesen Kerl dort?« Eschenbachs Nachbar zeigte auf den Schneemann, der zuoberst auf dem Holzhaufen festgezurrt war.
    »Richtig, um den Böög. Er verkörpert den Winter.« DerKommissar redete sich langsam warm. »In seinem Kopf befinden sich Knallkörper. Wenn die Flammen ihn erreichen, explodiert er. Dann brennt die ganze Figur. So treiben wir Zürcher den Winter aus.«
    »Schreckliches Ende.«
    Eine Weile sahen beide schweigend auf den Holzberg. Nur zögerlich bahnten sich die Flammen einen Weg durch das feuchte Holz. Der Üetliberg jenseits des Seebeckens verschwand hinter einer gewaltigen Rauchfahne.
    »Achtzehn Minuten schon.« Eschenbach sah wieder auf die Uhr.
    »Gibt es ein Zeitlimit?«, fragte der Berliner.
    »Nein. Je schneller, desto besser. Denn je schneller, desto schöner der Sommer.«
    »Ach so.« Sein Nachbar lächelte höflich, aber skeptisch.
    Eschenbach zog ein zerknülltes Blatt Papier aus der Hosentasche. »Letztes Jahr dauerte es zwölf Minuten und neun Sekunden.«
    »Da wird also richtig Buch
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