Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman
Autoren: Haymon
Vom Netzwerk:
war ich mit einem Satz bei der Tür und schob den Fuß über die Schwelle, bevor sie ins Schloss krachte.
    Missbrauch gehört zu unseren Leben wie das Amen zum Gebet. So wurde auch ich von meiner Mutter missbraucht, weil sie ein besseres Leben wollte. Erst verließ sie mich und verdingte sich als Putzfrau im Ausland. Dann kehrte sie zurück und entwurzelte mich. Sie benützte mich als Entschuldigung für ihre Sehnsüchte.
    Ich verlebte die Kindheit im einst ungeliebten Osten Europas. Fast alle Kinder des Dorfes im vor langer Zeit noch österreichischen Gebiet lebten zurückgelassen von den Müttern, und falls es Väter gab, auch zurückgelassen von diesen bei den Großeltern. Mein Großvater war krank, arbeitslos und Alkoholiker. Doch dann kam der Tag, an dem meine zweite Kindheit begann. Die deutschsprachige Mutter erschien, ich hätte sie nicht erkannt. Fotos verfälschen, aber Fremdsprachen verwandeln.
    Die Frau war zwar schlank, doch roch sie ganz anders als unsere Seife, ging aufrechter und flotter und unerschrockener auf uns zu, als wir es gewohnt waren, heiter und Freudentränen in den Augen. Sie redete deutsch und polnisch durcheinander, der Lippenstift duftete nach Erdbeeren. Sie trug Jeans und eine Lederjacke. Sie wirkte jung und reich, weil sie ein Auto besaß, um die Entfernung zu mir zu überwinden. Es gab Zeiten, da hatte sie für einen schlechten Platz im Autobus eines Schleppers bezahlt, um irgendwo so viel zu verdienen, dass sie einmal ein Auto kaufen konnte. Sie hatte keinen Führerschein, dafür einen Mann, der fuhr. Ein ganz Fremder.
    Ich sah diese Mutter zum ersten Mal wirklich. Wir waren allein im Schlafzimmer und sie fasste mich und drückte mich an sich. Küsste mich von oben bis unten ab, was mir äußerst unangenehm war. Sie verlangte, ich solle mich ausziehen, sie wolle mich untersuchen, ob ich unversehrt sei. Als wäre sie Ärztin. Sie glaubte an unsere Intimität, an unser Verhältnis oder Vertrauen, nur weil ich aus ihr herausgeschlüpft war. Ich war überrumpelt von ihrem Ansinnen, hatte jedoch Angst, dass etwas mit mir nicht stimmte, und wollte meiner Mutter gehorchen. Sie drückte mich nackt an sich. Sie atmete mich, Haut an Haut, ein. Um die körperliche Nähe nachzuholen, beschnüffelte sie mich, als wäre ich ein Baby. Sie hatte mich einst verlassen, weil sie keine Arbeit gehabt hatte, und nun wollte sie mich holen als Lohn. Sie verlangte von mir Unmögliches.
    Sie genoss meine Unschuld, wie ich vermute. Denn ich sah ihren ernsten Blick, als sie über meinen gespreizten Beinen aufschaute und mir lächelnd bekundete: Alles in Ordnung. Und sie küsste mich auf die Stelle der Ordnung. Unschuldig mag für sie sogar die darauf folgende Umarmung gewesen sein, für mich war sie purer Schock und Graus. Mutter war vermutlich verführerisch anzusehen, mir ekelte nur vor dem perversen Geschmack dieser Begegnung.
    Großmutters Reaktion gab mir Recht. Sie wollte ins Schlafzimmer, riss nichts ahnend die Türe auf und sah uns auf dem Bett. Sie tobte in ihrer Sprache, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, rief, das sei Sünde, als sie die eigene Tochter mit der eigenen Enkelin im Bett entdeckte, wie sie mit mir, einem großen Mädchen, Baby spielte. In einer meiner grauenhaftesten Erinnerungen hat sie sogar versucht, mich zu stillen.
    Die Tortur wurde durch Großmutter nicht wirklich beendet. Ich angelte meinen blau gestreiften Pyjama und nähte alle Schlupflöcher zu, dass man ihn auch nicht mehr aufknöpfen konnte, nähte mich darin ein wie in einen Panzer. Durch die Tür hörte ich die Frauen miteinander brüllen. Ich wurde Zeuge, als meine Mutter ihrer Mutter gegenüber grauenhafte Vorwürfe erhob.
    „Du hast mich nicht beschützt!“, brüllte sie. „Du hast mich deinem Mann zum Fraße vorgeworfen.“
    „Sei still, das ist lange vorbei“, flüsterte meine liebe Oma. „Hauptsache, er hat die Kleine in Ruhe gelassen. Ich habe aufgepasst.“
    Ich stürzte darauf in Fragen und tiefe Verzweiflung, gleichsam aus meinem Paradies. Ich hatte mit dem Großvater das Bett geteilt. Sehr oft war mir dabei unwohl gewesen. Weshalb? Meine Mutter hatte mich untersucht und sagte nun, ich sei ihre Tochter und sie könne mit mir machen, was sie wolle. Sie holte mich fort und fühlte sich als meine Schutzpatronin. Trotzdem hat sie mich nie wieder so angefasst.
    In Österreich gewöhnte ich mich schnell an die Sprache. Ich war sehr rasch eingegliedert und hatte auch Freundinnen unter den In- und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher