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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Autoren: Sergej Lochthofen
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ja nicht nervös machen. Jetzt, wo du ins ZK gewählt worden bist, werden sie vorsichtiger sein.»
    «Wollen wir es hoffen. Es zerrt an den Nerven, wenn man weiß, dass diese Brüder nur auf den geringsten Fehler warten.»
    «Dass ihr den Automaten in drei Monaten entwickelt habt, das war der Befreiungsschlag …»
    «Dreieinhalb Monate … Du weißt, ich bin in solchen Fragen korrekt. Am meisten hat es mich für die Ingenieure gefreut.»
    «Als die Nachricht kam, der elektronische Fakturierautomat läuft, da wusste ich, das müssen wir ganz groß rausbringen. Gestern noch Millionen Schulden, heute besser als die Konkurrenz im Westen. Euer Aufruf vor dem Parteitag verschafft dir und uns Luft. Jemand, der so hoch fliegt, den können sie nicht zum Kriechen zwingen.»
    «Und warum haben die im Westen so viele gute Leute und wir so wenige?»
    «Die Antwort kennst du so gut wie ich. Wir balancieren schon jetzt auf der Rasierklinge. Walter macht so lange mit, bis einer in Moskau die Augenbrauen hebt. Obwohl Marx ganz auf unserer Seite steht. Jene bestimmen das Tempo, deren Wirtschaft am weitesten entwickelt ist. Das sind wir im Osten. Aber du weißt selbst, das lassen die Freunde nicht einfach zu.»
    «Leistung, Gewinn, Eigeninitiative – du bist dir nicht sicher, dass wir es doch schaffen könnten?»
    «Wir beide ja und noch ein paar andere, aber der Widerstand ist weit stärker, als ich es je erwartet hätte. Hier in Berlin und vor allem in Moskau. Denk dran, wie sie Lenins Versuch, die Wirtschaft in Schwung zu bringen, abgewürgt haben, kaum war er tot. Dabei ging es den Menschen gerade etwas besser. Ich hoffe, unser Versuch endet nicht so. Aber selbst Walter muss vorsichtig sein. Nikita ist unberechenbar. Und es gibt einige, hier wie dort, die gerne selbst an deren Stelle sitzen würden. Was interessiert die da schon ein ‹Neues ökonomisches System›?»
    «Ich weiß, die Internationale des Mittelmaßes ist die mächtigste.»
    Trotz des Vertrauens zwischen ihnen bereute Lorenz seine Worte sofort. Es blieb schwer, bis zur letzten Wahrheit zu gehen.
    Dennoch erzählte er Apel, woher die Transistoren für den ersten Automaten stammten. Auch dass aus dem Ministerium die Order kam, zu Walter Ulbrichts 70. Geburtstag gleich ein halbes Dutzend elektronische Automaten zu fertigen. Das hätte bedeutet, für die benötigten Bauteile einen Pendelverkehr zwischen Paris und Sömmerda aufzuziehen. So viele «Reparaturmaschinen» konnte man gar nicht hin- und herschicken, wie man Transistoren aus dem Westen brauchte. Die eigene Herstellung war leider immer noch viel zu wackelig. Man einigte sich darauf, dass die Maschinen für den Geburtstag vorzeigbar zu sein hatten, komme, was da wolle. Selbst wenn in den Gehäusen außer ein paar bunten Lämpchen nichts drin wäre. Der Druck, den so eine Geschichte erzeugte, musste genutzt werden, um weitere Mittel für die Elektronik freizubekommen. Und für Walter Ulbricht reichte es, wenn die Dinger munter blinkten.
    Beide lachten herzlich.
     
    Als Lorenz nach dem Gespräch beschwingt durch den Schneematsch zum Auto ging, dachte er über die Zufälle des Lebens nach. Die Zufälligkeit, dass er aus Workuta lebend zurückkehrte, und die Zufälligkeit, dass einer wie Apel erkannte, was da in Sömmerda passierte. In manchem Zufall schien so etwas wie eine Gesetzmäßigkeit zu liegen. Aber das klang irgendwie nicht richtig marxistisch.
    Es sollte ihre letzte Begegnung sein.
    Der eine würde nach einem Herzinfarkt Wochen und Monate im Dämmerzustand verbringen ohne Aussicht darauf, je wieder arbeiten zu können. Das Büromaschinenwerk stürzte nach seinem rauschhaften Höhenflug binnen kürzester Zeit ab und sollte sich davon nie wieder erholen.
    Der andere erschoss sich, weil er nicht bereit war, einen Knebelvertrag mit den Russen zu unterschreiben. Der einzige und letzte Versuch in Ostberlin, sich von Moskau wenigstens in Wirtschaftsfragen zu emanzipieren, scheiterte.

2012
    Der Umschlag war dünn. Enttäuschend dünn. Ich schüttete den Inhalt des Kuverts auf den Tisch, mehrere lose Blätter rutschten auf das polierte Holz.
    Viel hatte ich von seiner Stasi-Akte ohnehin nicht erwartet. Bereits im Bundesarchiv, wo die Kaderunterlagen aus dem ZK angelandet waren, offenbarte die Mappe Lorenz Lochthofen kaum Neues. Ein paar persönliche Daten, zwei Briefe an Pieck, mehrere Fragebögen und handgeschriebene Lebensläufe, dazu ein Briefumschlag, bei dem ein Sammler die russische Briefmarke
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