Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarze Stunde

Schwarze Stunde

Titel: Schwarze Stunde
Autoren: Christine Feher
Vom Netzwerk:
beschrieben hat. Carla packt mich erneut, ihre Finger krallen sich in meine Arme, so hart, dass ich aufschreie. Dann gibt sie mir einen Stoß, ich schwanke, mein linker Fuß gleitet aus und rutscht von der Felskante, danach der Fall, er dauert lange, mein Schrei wird vom Wind verschluckt, mir ist nicht kalt, nicht warm, das bin alles nicht ich. Der Aufprall kommt unerwartet. Mein Rücken ist verschwunden, oder mein Kopf. Der Himmel zieht sich zu. Um mich herum gibt es nichts mehr.

26.

    W o ist eigentlich Valerie?«, fragt Frau Bollmann morgens im Speisesaal, nachdem sie mit routiniertem Blick die Schülerzahl an allen Tischen überprüft hat. »Alena? Carla? Büsra? Hat sie verschlafen oder ist sie noch im Bad?«
    Die Mädchen aus Valeries Zimmer heben die Schultern; Carla und Büsra löffeln ihre Cornflakes weiter, nur Alena reißt ihre Augen auf und blickt sich suchend im Raum um, die Augen flackernd, ein wenig erschrocken.
    »Ich dachte, sie wäre längst hier«, äußert sie. »Sie war schon weg, als ich aufgewacht bin, deshalb dachte ich, sie hat vielleicht nicht gut geschlafen und ist früher aufgestanden als wir anderen aus dem Zimmer.«
    »Merkwürdig.« Frau Bollmann runzelt die Stirn. »Was ist mit Ihnen, Manuel, wissen Sie auch nicht, wo sie steckt?«, fragt sie, an Valeries Freund gerichtet.
    »Ich hab sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen«, beteuert er. Seine Augen sind rot, er wirkt, als wäre er noch nicht ganz wach und außerdem verkatert, er greift sich an den Kopf. »Sie ist doch nicht mitgekommen, als die meisten von uns gestern noch mal weggegangen sind. Wissen Sie doch selber. Ich geh nachher mal gucken, jetzt brauche ich erst mal was zwischen die Kiemen.«
    »Ja, Valerie sagte, sie sei müde«, erinnert sich die Lehrerin. »Aber das würde nur erklären, warum sie noch im Bett liegt. Sie sind ganz sicher, dass sie aufgestanden ist, Alena?«
    »Wenn ich es doch sage!« Alena wirft die Hände in die Luft.
    »Die anderen.« Frau Bollmann blickt von einem Tisch zum anderen, knetet ihre Finger, nestelt in ihrem Haar herum. »Irgendwo muss sie doch sein, hat niemand sie über den Flur gehen sehen? In den Waschraum, nach draußen, irgendwohin?«
    Schweigen.
    »Oleg, Patrick. Yuki und Fiona. Hat es Streit gegeben, könnte Valerie deshalb vielleicht abgehauen sein?«
    »Ist längst alles beigelegt«, meint Oleg. Er und die beiden angesprochenen Mädchen nicken. Frau Bollmann wendet sich ihrem Kollegen Corvin Schwarze zu.
    »Dann du«, sagt sie. »Hat sie sich bei dir abgemeldet?«
    Schwarze schüttelt den Kopf. Er sieht zur Tür, blickt aus dem Fenster, dreht sich nach hinten, Frau Bollmann bemerkt ein unruhiges Flackern in seinen Augen.
    »Tja, dann bleibt uns nichts weiter übrig als abzuwarten«, beschließt sie, greift nach der Schüssel mit dem Rührei und nimmt sich eine Scheibe Toast aus dem Halter. Ihre Hände zittern leicht, als sie ihn mit Butter bestreicht. Wie ihr Kollege blickt sie immer wieder zur Tür. Die Schüler fangen an zu essen, die meisten schweigend, einige Jungen versuchen mit gedämpfter Stimme Witze zu reißen, ernten jedoch einen Blick von ihrer Lehrerin, der sie augenblicklich stoppt. Irgendetwas stimmt nicht, das spürt hier jeder.
    »Ich glaube, sie kommt«, flüstert Alena plötzlich in die Stille hinein, und auch die anderen lauschen zur Tür. Vom Flur her dringen Schritte nach innen, gleich darauf steht Mr Lewis im Saal, der Herbergsvater, noch hagerer, noch hohlwangiger, als er ihnen allen gestern Abend erschienen war. Im Türrahmen bleibt er stehen und verbeugt sich leicht.
    »Es ist mir außerordentlich unangenehm, Sie beim Frühstück stören zu müssen«, beteuert er. »Aber ich habe Besuch mitgebracht. Leider scheint es keine erfreulichen Nachrichten zu geben. Bitte sehr, entschuldigen Sie mich. Ich muss mich einen Augenblick lang ausruhen.« Er gibt die Tür frei. Zwei uniformierte Polizisten treten ein.
    Die Schüler erstarren in der Bewegung, Löffel fallen in die Cornflakesschüsseln zurück, eine Kanne wird lauter als beabsichtigt auf den Tisch gestellt. Der Ältere der beiden Beamten ergreift das Wort.
    »Guten Morgen«, beginnt er. »Ich komme ohne Umschweife zur Sache. Am Strand unter den Klippen von Beachy Head wurde ein Mädchen gefunden, ungefähr siebzehn bis zwanzig Jahre alt, regenfest gekleidet und schwer verletzt. Sie lag bereits seit Stunden dort, den ärztlichen Untersuchungen zufolge ist sie durch Gewalteinwirkung von der Steilküste
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher