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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer
Autoren: Ulrich Woelk
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Frühling, die Luft war wunderbar. Ich bin über die Felder bis zu der Stelle am See spaziert, wo wir früher immer gesessen haben. Es ist alles noch so wie damals. Das ist erstaunlich, nicht wahr. Die Sonne steht schon sehr hoch am Himmel. Sogar jetzt ist es noch ganz mild, wenn ich das Fenster öffne.«
    Offenbar schwelgten die beiden wichtigsten Männer in ihrem Leben heute in Erinnerungen an gemeinsame Stunden mit ihr, dachte Do. »Hier war es auch schön«, sagte sie. »Aber jetzt ist es wieder kalt geworden. In der Nacht soll es Frost geben.«
    |22| »Bei euch im Osten sind die Nächte zu kalt«, sagte ihr Vater mit Bestimmtheit. Aber woher wollte er das wissen.
    Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte Do auf die gewachsten Holzdielen unter ihren Füßen. Oliver saß vor dem Fernseher. Er wollte, daß sie dachte, daß ihre sexuelle Kompliziertheit oder Kälte ihn in die Ödnis eines mitternächtlichen Mattscheibenuniversums aus fünften Krimiwiederholungen, moralisierenden Minderheitenreportagen und preisgekrönten Filmkunstdramen in Originalsprache mit Untertiteln aus Taiwan oder Uruguay verstoßen hatte. Sie sollte sich schuldig fühlen.
    Einmal (es war aber schon einige Jahre her) hatte sie an einem Strand in Lotushaltung neben ihm gesessen. Mit ausgestreckter Hand befreite sie seinen salzwasserschrumpeligen Schwanz aus den Badeshorts (unter einem wie zufällig in seinen Schoß gerutschten Handtuch) und behandelte ihn so lange in geeigneter Weise, bis sich auf dem Frotteestoff dunkle Flecken bildeten. Viele der jungen Frauen an diesem Strand trugen kein Bikinioberteil, und Do befriedigte sich mit der anderen Hand selbst. Sie war
nicht
sexuell kompliziert. Aber es wäre sinnlos gewesen, ihn jetzt daran zu erinnern.
    Sie rollte sich in ihre Decke. Oliver hatte das Licht brennen lassen, und sie schaltete es aus. Dann stand sie noch einmal auf und öffnete eins der Rollos. Das Laternenlicht hob die noch blattlosen Äste der Straßenlinden aus der Nacht. Als sie die Augen schloß, fluktuierte die Dunkelheit. Als Kind hatte sie in der Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Lidern immer ein Geheimnis vermutet, etwas, das ihr aufgegeben war zu entdecken. Sie spürte etwas Unsichtbares |23| in dem Schwarz, ganz nah und doch unfaßbar. Doch bevor es ihr gelang – auch jetzt wieder   –, weiter vorzudringen in diesen geheimnisvollen lichtlosen Innenraum, löste ihr Bewußtsein sich auf. Seit siebenunddreißig Jahren war es Abend für Abend das gleiche, auch wenn sie es gelegentlich für unmöglich hielt: Sie schlief ein.

|24| 2 
    Oliver Schwarz war am Meer aufgewachsen, an der Nordsee in der Nähe von Wilhelmshaven. Offizielle Wetterstatistiken weisen für diese Gegend jährlich rund achthundertfünfzig Liter Regenwasser pro Quadratmeter aus und hundertdreiundzwanzig Sonnentage. Rein rechnerisch kommen auf einen Sonnentag somit ungefähr zwei Regentage. Oliver war vier Jahre alt, als sich sein Vater diesem ernüchternden Verhältnis entzog und mit einer jungen Kroatin durchbrannte, die er als Leichtmatrose bei einem Landgang kennengelernt hatte. Er ging mit ihr nach Spanien und ließ danach nichts mehr von sich hören.
    Er hatte wohl viele Affären gehabt, aber Oliver wußte nur wenig darüber. Von seinen tuschelnden Schwestern, die sieben beziehungsweise sechs Jahre älter waren als er, erfuhr er das eine oder andere, aber insgesamt nicht viel. Irgendwann stellte er sich vor, wie sein Vater die wellenartigen Linien des weiblichen Körpers, diese geheimnisvolle Dünung, an das Ufer seiner Männlichkeit hatte branden lassen zur Erzeugung jener weißen Gischt, von deren Existenz und Bestimmung er noch kaum etwas wußte. Die heimliche Bewunderung für seinen abwesenden Vater |25| quälte ihn lange mit Gewissensbissen gegenüber seiner tüchtigen soliden Mutter, die ihn und seine Schwestern allein durchbringen mußte.
    Da er in einem rein weiblichen Haushalt aufwuchs, manifestierte sich die Übermacht des Femininen in seinem Leben nicht nur moralisch, sondern auch zahlenmäßig Tag für Tag. Und so wuchs sich die offensichtlich verwerfliche und mutterbeleidigende Neigung, das Leben seines Vaters erotisch zu verklären, in der Pubertät zu einer unterschwelligen Manie aus, einer uneingestandenen Obsession. Er wünschte zu sein, was sein Vater offenbar gewesen war: ein Frauenheld. Doch sagte ihm eine innere Stimme, daß es damit niemals etwas werden würde. Denn offensichtlich hatte er nicht die stattliche strahlende Natur
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