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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne
Autoren: John Harvey
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die Tür.
    Wie so oft war Helen vor ihm da, lehnte sich auf dem Parkplatz des Reviers an das Dach ihres blauen VW und rauchte eine letzte Zigarette, bevor sie das Gebäude betrat.
    In den vergangenen paar Jahren hatte sie es mit Pflaster, Hypnose, Nikotinkaugummis, sogar Akupunktur versucht, aber sie hatte es nie geschafft, länger als drei Monate aufzuhören: ein besonders scheußlicher Fall, wieder eine Reihe von Tagen, an denen sie in aller Frühe aufstehen musste, obwohl sie spät, sehr spät ins Bett gekommen war, und sie war abgesprungen und rückfällig geworden.
    Sie richtete sich auf, als Will näher kam, und blinzelte ein wenig in dem Licht, das überraschend hell für diese Tageszeit, diese Jahreszeit war. Helen trug schwarze Hosen und rote Stiefeletten sowie einen grauen Pullover unter einem blauen Wollmantel. Ihr frisch aufgehelltes Haar hatte sie zurückgebunden. Will dachte nicht zum ersten Mal, was für eine attraktive Frau sie doch war, und fragte sich, warum die Männer   – wenn sie Männer bevorzugte, was so zu sein schien   – nicht vor ihrer Tür Schlange standen.
    Aber vielleicht taten sie das.
    Von einer bitteren und etwas bizarren Beziehung abgesehen, hatte Helen ihm nie irgendetwas über die Wechselfälle ihres Privatlebens anvertraut   – und damals auch nur, weil sie im Krankenhaus gelegen hatte und sehr deprimiert gewesen war.
    »Hallo«, sagte sie jetzt fröhlich.
    »Hallo.«
    »Alles in Ordnung mit den Kindern?«
    »Prima.«
    »Und mit Lorraine?«
    »Auch.«
    Helen grinste. »Du bist wirklich ein Glückspilz, was?«
    »Ach ja?«
    »Schöne Frau, wunderbare Kinder, höhere Aufklärungsrate als alle anderen.«
    Will runzelte die Stirn. »Läuft das auf irgendwas hinaus? Oder ist es nur dein stinknormales Sticheln am Montagmorgen?«
    Helen neigte den Kopf zur Seite. »Es läuft auf was hinaus.«
    »Wenn es nämlich um deine Beförderung geht, ich habe dir doch gesagt, dass ich alles unterstütze   …«
    »Es geht nicht um die Beförderung, so überfällig sie auch ist.«
    »Worum dann?«
    »Mitchell Roberts.«
    »Was ist mit ihm?«
    »Er ist entlassen worden.«
    »Wann?«
    »Ende letzter Woche.«
    »Mein Gott!«
    »Gerichtliche Verfügung, ihn unter Aufsicht zu stellen, aber   …« Helen zuckte die Achseln.
    »Mein Gott!«, sagte Will noch einmal. »So eine Scheiße!«
    Helen drückte ihre Zigarette unter der Hacke aus und folgte ihm zwischen den Autos hindurch zum Eingang des Gebäudes.

3
     
    Es war vor drei Jahren und einigen Monaten im Hochsommer gewesen. Ein norwegischer Lastwagenfahrer, der eine Ladung Holzspäne beförderte, war über einen geraden Abschnitt der A10 nach Süden gefahren und musste einer kleinen Gestalt ausweichen, die ziellos am Straßenrand herumstolperte. Der Fahrer hatte angehalten, gewartet und unsicher in den Rückspiegel geblickt   – ein Ausländer in einem fremden Land, der sich auf der Fahrt vom Hafen in Immingham schon verspätet hatte und auf keinen Fall in irgendetwas hineingezogen werden wollte.
    Während er noch zögerte, fiel die Gestalt   – ein Mädchen, er war sich fast sicher   – einfach um und blieb bewegungslos auf dem Grünstreifen liegen. Er fluchte leise vor sich hin, stellte den Motor ab und kletterte aus dem Führerhaus.
    Ein Bein lag ausgestreckt zum Straßenbelag hin da, das andere war angewinkelt; ihre Fußsohlen waren rissig und blutig, die Schnitte mit Kies und Erde verkrustet. Sie trug eine übergroße Öljacke, sonst nichts. Die dunkelgrüne Jacke stand offen und hatte Ölflecken. Das Mädchen war kaum in der Pubertät, die Hüftknochen stachen scharf unter der dünnen Haut hervor, ein paar Härchen wuchsen dunkel zwischen den Beinen. Die Brüste, fast noch wie die eines Jungen, hoben und senkten sich leicht über dem Umriss der Rippen. Die Augen waren geschlossen.
    Ohne sie zu bewegen, bedeckte der Fahrer ihren Körper so gut er konnte, dann rannte er zum Lastwagen und holte sein Handy.
    Der erste Polizeiwagen aus Ely war in sieben Minuten da,der Krankenwagen in zehn; Will, der an einer Sitzung im Polizeihauptquartier in Huntingdon teilgenommen hatte, traf ein, als die Sanitäter das Mädchen auf eine Trage legten. Sie war viel zu verschreckt, um mit jemandem zu sprechen oder auch nur ihren Namen zu nennen. Als sich Will vorsichtig zu ihr hinunterbeugte und ermutigend lächelte, zuckte sie zusammen.
    Es dauerte mehrere Stunden, bis sie ihren vollen Namen herausbekamen: Martina Ellis Jones. Sie lebte mit ihrer
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