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Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt

Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt

Titel: Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
Autoren: Karl Olsberg
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Durchschnittlich einmal pro Woche erhielten wir einen Brief irgendeines unserer Kunden, der von uns eine schriftliche Erklärung erwartete, dass unsere Computersysteme »jahr-2000-fähig« seien - anderenfalls könne man uns als Lieferanten nicht mehr berücksichtigen. Aus heutiger Sicht kann man wohl von einer Hysterie sprechen, die die globale Wirtschaft ergriffen hatte. Man malte sich Horrorszenarien für den 1. Januar 2000 aus, wenn die Jahresziffern von 99 auf 00 umspringen würden. Kraftwerke, so hieß es, könnten ausfallen, die Stromversorgung zusammenbrechen. Der Absatz von Notstromaggregaten boomte, ängstliche Menschen deckten sich mit Vorräten für Wochen ein. Milliarden und Abermilliarden wurden investiert, um die verdächtigen Computersysteme zu modernisieren.

    Dann kam der 1. 1. 2000, und es passierte praktisch gar nichts. All die Dieselaggregate blieben unbenutzt, die Wirtschaft funktionierte reibungslos.

    Es gibt drei mögliche Erklärungen dafür, warum keine nennenswerten Probleme entstanden:

    1. Die Probleme wurden rechtzeitig erkannt und gelöst

    Vieles spricht dafür, dass dies in Teilen der Fall ist. Ich weiß von Fehlern, die tatsächlich eingetreten wären, wären sie nicht rechtzeitig behoben worden. Wer aber die Technik ein bisschen versteht, der kann sich kaum vorstellen, dass alle potenziellen Fehler rechtzeitig gefunden und behoben worden wären, wenn dies die einzige Erklärung wäre.

    2. Es war alles gar nicht so schlimm, die Computerindustrie hat das Problem nur aufgebauscht

    Tatsächlich erlebten Softwareanbieter und Systemintegrationsfirmen aufgrund der Annahme, ein solches Problem existiere, einen gewaltigen Auftragsschub. Der Verdacht liegt nahe, dass der eine oder andere Vertriebsmitarbeiter das Problem dramatischer darstellte, als es war, um das Geschäft anzukurbeln. Man kann wohl davon ausgehen, dass auch diese Erklärung in Teilen richtig ist.

    3. Wir wussten einfach nicht, was geschehen würde

    Niemand konnte genau sagen, welche Auswirkungen der »Jahr-2000-Fehler« haben würde. Die Komplexität der computerisierten Wirtschaft war viel zu groß, als dass selbst Experten sicher hätten sagen können, was am 1. 1. 2000 passieren würde. Es war vernünftig, auf »Nummer sicher« zu gehen und mehr Aufwand zu betreiben, als vermutlich nötig war. Dennoch konnte man nicht wissen, ob das, was man getan hatte, ausreichte.

    Meines Erachtens kommt die dritte Sichtweise der Wahrheit am nächsten. Etwas süffisant könnte man sagen: Das eigentliche »Jahr-2000-Problem« war, dass wir nicht wussten, ob wir eins hatten.

    Der Grund dafür ist einfach: Wir arbeiteten schon damals mit Systemen, deren Komplexität weit über unser Vorstellungsvermögen hinausging. Ob das Abkürzen der Jahreszahl auf zwei Stellen jener bildhafte Flügelschlag eines Schmetterlings hätte sein können, der das ganze System ins Chaos stürzen würde, konnte niemand wissen.

    Glücklicherweise hat sich das System insgesamt als robuster erwiesen, als die Pessimisten befürchteten. Doch das »Jahr-2000-Problem« hat deutlich gemacht, dass komplexe Systeme nicht mehr voll beherrschbar sind. Dabei spielte das Internet in den neunziger Jahren nur eine untergeordnete Rolle; die Vernetzung der Computersysteme untereinander war bei weitem noch nicht so weit fortgeschritten wie heute.

    Das zweite Beispiel für ein chaotisches Verhalten komplexer Systeme in der Realität ist sehr viel aktueller. Als ich im Herbst 2008 begann, dieses Buch zu schreiben, begann gerade die große Finanzkrise, die auch als »Jahrhundertkrise« bezeichnet wurde. Die Bundesregierung beschloss ein Rettungspaket in der beispiellosen Höhe von 500 Milliarden Euro, um die angeschlagene Finanzbranche zu stabilisieren. Weltweit wurden ähnliche Hilfsprogramme in einem Gesamtvolumen von mehreren Billionen Euro aufgelegt.

    Es ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches noch zu früh, um zu bewerten, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen diese Maßnahmen haben werden. Die Experten sind sich uneins, ob aufgrund der enormen in den Markt gepumpten Geldmenge eine Hyperinflation droht. Kurzfristig allerdings scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein, denn aufgrund des Nachfragerückgangs sank die Preissteigerungsrate zum ersten Mal seit Jahrzehnten auf 0. Fest steht aber, dass sich die Volkswirtschaften der Welt bis an die äußersten Grenzen verschuldet haben, um die Finanzkrise in den Griff zu bekommen. Ihre Handlungsfähigkeit
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