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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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und beunruhigend wirkten? Das lange Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und die leicht gebräunte Haut straffte sich über einem Gesicht, das irgendwie zugleich zu spitz und zu weich war: die Nase zu zart für dieses Kinn, für diese hohen Wangenknochen, für die großen, dunklen Augen. Nein, dachte er, reizend war sie vielleicht, aber keine große Schönheit.
    Doch dann wandte sie sich ihm ganz zu, und die widerstrebenden Züge ihres markanten Gesichts flossen zu einer vollkommenen Einheit zusammen. Pasquale erinnerte sich aus dem Studium, dass manche Bauwerke in Florenz aus verschiedenen Blickwinkeln enttäuschen konnten, aber als Ganzes oder auf einem Foto immer gut aussahen; dass die verschiedenen Perspektiven auf ein Gesamtbild hin komponiert waren; und so war es wohl auch bei Menschen. Dann lächelte sie, und in diesem Augenblick, wenn so etwas überhaupt möglich ist, verliebte sich Pasquale weniger in die Frau, die er gar nicht kannte, als in den Moment – und so sollte es sein Leben lang bleiben.
    Er ließ den Stein fallen.
    Sie schaute weg – nach rechts, nach links, dann wieder nach rechts –, wie um den Rest des Dorfs zu erfassen. Pasquale errötete, als er sich ausmalte, welchen Eindruck sie gerade bekam: ein Dutzend farblose, triste Steinhäuser, einige davon verlassen, die wie Seepocken in der Klippenfurche klebten. Auf der kleinen Piazza strichen verwilderte Katzen herum, doch ansonsten war alles ruhig, da die Fischer mit ihren Booten ausgelaufen waren. Ähnliche Enttäuschung emp fand Pasquale, wenn sich Menschen zufällig auf einer Wanderung hierher verirrten oder aufgrund einer kartografischen oder sprachlichen Verwechslung mit dem Boot anlandeten, Menschen, die sich auf dem Weg in die bezaubernden Städt chen Porto venere oder Porto fino wähnten, nur um sich plötzlich in dem hässlichen Fischerdorf Porto Vergogna wiederzufinden.
    »Entschuldigung.« Die schöne Amerikanerin wandte sich wieder an Orenzio. »Soll ich mit den Taschen helfen? Oder gehört das … ich meine … ich weiß nicht, was bezahlt wurde und was nicht.«
    Nach der beach -Geschichte hatte Orenzio das teuflische Englisch erst mal satt und zuckte nur die Achseln. Er unterstrich sein Äußeres – kleine Statur, abstehende Ohren und trübe Augen – gegenüber Touristen oft mit einem Benehmen, das auf einen Gehirnschaden schließen ließ. Umso beeindruck ter zeigten sich diese von der Fähigkeit dieses Einfaltspinsels, ein Motorboot zu lenken, und bedachten ihn mit einem üppigen Trinkgeld. Je trotteliger er sich gab und je weniger Englisch er sprach, mutmaßte seinerseits Orenzio, desto besser fiel seine Bezahlung aus. Entsprechend dumm schaute er aus der Wäsche.
    »Muss ich mein Gepäck also selber holen?«, fragte die Frau geduldig und ein wenig hilflos.
    »I bagagli, Orenzio«, rief Pasquele seinem Freund zu, und dann dämmerte es ihm: Diese Frau wollte in sein Hotel! Hastig watete Pasquale hinüber zum Pier und leckte sich die Lippen, weil er gleich ungewohntes Englisch sprechen musste. »Bitte«, sagte er zu der Frau, und seine Zunge klebte ihm wie ein Knorpelbrocken im Mund. »Habe Ehre ich und Oren zio tragen Tasche. Gehen zu Hotel Ausreichende Aussicht.« Seine Bemerkung schien die Amerikanerin zu verwirren, doch Pasquale bemerkte es gar nicht. Er wollte einen stilvollen Abschluss finden und suchte nach einer geeigneten Anrede für sie. Madame? Er wünschte sich etwas Besseres. Er beherrschte die englische Sprache nicht, doch er hatte genug gelernt, um eine gesunde Furcht vor der Strenge zu haben, mit der sie auf ihrer Willkür und ihren sinnlosen Konjugationen beharrte; sie war unberechenbar wie ein Mischlingshund. Seine ersten Lektionen in dieser Sprache hatte er von dem einzigen Amerikaner erhalten, der je in dem Hotel abgestiegen war, einem Schriftsteller, der jedes Frühjahr nach Italien kam, um an seinem Lebenswerk herumzubosseln – einem epischen Roman über seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Pasquale versuchte sich auszumalen, was der hoch gewachsene, schneidige Autor zu dieser Frau gesagt hätte, aber die richtigen Worte wollten ihm nicht einfallen, und er überlegte, ob es eine Entsprechung für das italienische Bella gab. Dann probierte er es einfach: »Bitte. Kommen. Schöne Amerika.«
    Sie starrte ihn einen Moment an – der längste Moment seines bisherigen Lebens –, dann senkte sie sittsam lächelnd den Blick. »Danke. Ist das Ihr Hotel?«
    Nach den letzten schwappenden Schritten gelangte
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