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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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Tod seines Vaters erhielt. Nach der Beerdigung bat er seine nicht mehr junge Mutter, nach Florenz zu ziehen, doch schon die Vorstellung empörte sie. »Was wäre ich für eine Ehefrau, wenn ich deinen Vater verlassen würde, weil er tot ist?« Damit stand fest – zumindest für Pasquale –, dass er in die Heimat zurückkehren und sich um seine gebrechliche Mutter kümmern musste.
    Also zog er wieder in sein altes Zimmer im Hotel. Vielleicht hatte er Schuldgefühle, weil er Carlos Ideen früher belächelt hatte, jedenfalls betrachtete Pasquale den kleinen Gasthof seiner Familie auf einmal mit ganz anderen, sozusagen väterlichen Augen. Ja, dieses Dorf konnte zu einem ganz besonderen italienischen Ferienort werden – zu einer Zuflucht für Amerikaner mit Sonnenschirmen an der felsigen Küste, mit klickenden Fotoapparaten und strahlenden Kennedys! Und wenn die Verwandlung der leeren Pensione in ein erstklassiges Urlaubsetablissement seinem eigenen Interesse diente, hatte er nichts dagegen, schließlich war das alte Hotel sein einziges Erbe, die einzige familiäre Trumpfkarte, die er ausspielen konnte.
    Das Hotel bestand aus einer Trattoria – ein Café mit drei Tischen –, einer Küche, zwei Wohnungen im ersten Stock und den sechs Zimmern des ehemaligen Bordells darüber. Verbunden mit dem Hotel war die Verantwortung für seine einzigen beiden festen Bewohner, le due streghe, wie die Fischer sie nannten, die beiden Hexen: Pasquales halb gelähmte Mutter Antonia und ihre Schwester Valeria, das böse Weib mit den drahtigen Haaren, die fürs Kochen zuständig war, wenn sie nicht gerade die faulen Fischer und seltenen Gäste anschrie, die hereinstolperten.
    Pasquale war überaus duldsam, und er ließ sich die Launen seiner melodramatischen Mamma und seiner verrückten Zia genauso gefallen wie die groben Bemerkungen der Fischer, die jeden Morgen ihre Pescherecci hinunter zum Ufer schoben und mit diesen kleinen, wie schmutzige Salatschüsseln auf den Wellen schaukelnden Nussschalen, angetrieben vom Bapp-bapp der rauchenden Außenbordmotoren, hinaus aufs Meer fuhren. Den Fischern gingen jeden Tag gerade so viel Sardellen, Sardinen und Seebarsche ins Netz, wie sie an die Restaurants im Süden verkaufen konnten, bevor sie zurückkamen, um Grappa zu trinken und ihre bitteren, selbst gedrehten Zigaretten zu rauchen. Sein Vater hatte stets großen Wert darauf gelegt, sich und seinen Sohn – beide immerhin Nachfahren, so Carlo, der angesehenen florentinischen Kaufmannsschicht – von den ungehobelten Fischern abzugrenzen. »Schau sie dir an«, sagte er zu Pasquale, versteckt hinter einer der vielen Zeitungen, die jede Woche mit dem Postboot kamen. »In einer zivilisierteren Zeit wären sie unsere Dienstboten gewesen.«
    Nachdem er im Krieg seine zwei älteren Söhne verloren hatte, kam es für Carlo nicht infrage, dass Pasquale auf einem Fischerboot, in einer Fischfabrik in La Spezia, in den Weinbergen, in einem Marmorsteinbruch der Apenninen oder an einem anderen Ort arbeitete, wo ein junger Mann wertvolle Fähigkeiten erwerben und das Gefühl abschütteln konnte, verweichlicht und in der harten Welt fehl am Platz zu sein. Nein, Carlo und Antonia – die bei der Geburt ihres letzten Kindes schon vierzig war – zogen Pasquale wie ein nur ihnen anvertrautes Geheimnis auf, und erst durch inständiges Bitten waren seine alternden Eltern dazu zu bewegen, ihn an der Universität in Florenz studieren zu lassen.
    Als Pasquale nach dem Tod seines Vaters zurückkehrte, wussten die Fischer nicht so recht, was sie von ihm halten sollten. Zuerst schrieben sie sein seltsames Gebaren – dass er ständig las, dass er Selbstgespräche führte, dass er Sachen ausmaß, dass er säckeweise Bausand auf die Felsen schüttete und ihn auseinanderharkte wie ein eitler Tropf, der seine letzten Haarbüschel kämmt – der Trauer zu. Sie zogen ihre Netze auf, und als sie beobachteten, wie der schlanke Einundzwanzigjährige Steine umschichtete, um die Stürme daran zu hindern, seinen Strand wegzuspülen, wurden ihre Augen feucht in der Erinnerung an die leeren Träume ihrer eigenen verstorbenen Väter. Doch bald vermissten die Fischer die gutmütigen Frotzeleien, mit denen sie Carlo Tursi immer aufgezogen hatten.
    Nachdem die Fischer Pasquale einige Wochen dabei zugesehen hatten, wie er an seinem Strand arbeitete, ertrugen sie es schließlich nicht mehr. Eines Tages warf Tomasso der Ältere dem jungen Mann eine Streichholzschachtel zu und rief: »Da
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