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Schöne neue Welt

Schöne neue Welt

Titel: Schöne neue Welt
Autoren: Aldous Huxley
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gebührte nicht mehr als ein schmutziger Schweinestall, ein lichtloses Erdloch. Die Glieder steif und wund von der langen Schmerzensnacht, aber eben darum das Herz voll neubestärkter Gewißheit, klomm er zum Flachdach seines Turms empor und spähte in die strahlende Welt des Sonnenaufgangs hinaus, die zu bewohnen er sich wieder verdient hatte. Im Norden war die Aussicht von einem langgestreckten Hügelrücken, dem Wilseder Berg, begrenzt, hinter dessen östlichem Ende wie Türme die sieben Wolkenkratzer emporragten, aus denen jetzt Egestorf bestand.
    Bei ihrem Anblick schnitt der Wilde eine Grimasse. Aber mit der Zeit gewöhnte er sich daran, denn nachts blinkten sie so heiter mit ihren geometrischen Sternbildern oder wiesen lichtüberflutet als leuchtende Finger - im ganzen Land verstand nur der Wilde den Sinn dieser Gebärde feierlich hinauf in das unergründliche Geheimnis des Himmels.
    In der Senke zu Füßen des sandigen Hügels, auf dem sein Leuchtturm stand, lag das bescheidene, neun Stockwerke hohe Dörfchen Amelinghausen mit seinen Speichern, einer Geflügelfarm und einer kleinen Vitamin- D-Fabrik.
    Auf der Südseite des Turms fiel das Gelände über weite Heidehänge zu einer Kette von Teichen ab.
    Hinter ihnen erhob sich über den Wäldern das Hochhaus von Heber mit seinen vierzehn Stockwerken. Falkenberg und Hauscheiberg, matt aus dem Dunst schimmernd, lockten den Blick in blaue, romantische Ferne. Aber nicht die Fernsicht allein hatte den Wilden zu diesem Leuchtturm gezogen; die Nähe war nicht weniger verlockend. Die Wälder, die Lichtungen voll Heidekraut und gelbem Ginster, die zu dunklen Klumpen geballten Föhren, die glitzernden Teiche, von Birken überhangen, mit ihren Wasserlilien und Schilfgürteln - sie waren schön und wunderbar für ein an die Dürre der neumexikanischen Wüste gewöhntes Auge. Und diese Einsamkeit! Ganze Tage vergingen, ohne daß er einen einzigen Menschen sah. Der Leuchtturm lag nur eine viertel Flugstunde vom Tempelhof er Flugturm entfernt, aber die Berge von Malpais waren kaum verlassener als diese Heidelandschaft. Die täglichen Ausflüglerscharen verließen Berlin nur, um elektromagnetisches Golf oder Tennis zu spielen. Schneverdingen besaß keine Golfplätze, die nächsten Riemannschen Felder befanden sich in Lüneburg. Blumen und Landschaft waren hier die einzigen Attraktione n. Und da es somit keinen triftigen Grund zum Kommen gab, kam kein Mensch. In den ersten Tagen blieb der Wilde ungestört allein.
    Das Geld, das ihm seinerzeit bei der Ankunft für persönliche Zwecke ausgehändigt worden war, hatte er zum größten Teil für seine Ausrüstung verwendet. Vor der Abreise von Berlin hatte er vier Viskosewolldecken, Seile und Bindfaden, Nägel, Leim, einiges Werkzeug und Zündhölzchen gekauft - allerdings hatte er vor, sich in nächster Zeit einen Feuerbohrer zu machen -, ferner ein paar Töpfe und Pfannen, zwei Dutzend Päckchen mit Samen und zehn Kilo Weizenmehl. »Nein, danke, keinen synthetischen Stärke- und Baumwollabfall-Mehlersatz«, hatte er hartnäckig abgelehnt. »Auch wenn er nahrhafter ist.« Aber als man ihm den Drüsennährzwieback »Panglandulin« und vitaminisierten Fleischersatz anbot, hatte er der Überredungskunst des Ladeninhabers doch nicht widerstehen können. Beim Anblick dieser Büchsen machte er sich jetzt bittere Vorwürfe über seine Schwäche. Widerlicher Zivilisationskram! Nicht einmal wenn er verhungern müßte, wollte er das Zeug essen, hatte er sich fest vorgenommen. »Das wird ihnen eine Lehre sein«, dachte er rachsüchtig.
    Aber auch ihm.
    Er zählte seine Barschaft. Der kleine Rest würde ihm hoffentlich über den Winter hinweghelfen. Im nächsten Frühling wuchs in seinem Garten wohl schon genug, um ihn von der Außenwelt unabhängig zu machen. Inzwischen gab es für alle Fälle Wild; er hatte Kaninchen in Menge und an den Teichen Wasservögel gesehen. Sogleich ging er daran, sich Bogen und Pfeile zu schnitzen.
    In der Nähe des Leuchtturms wuchsen Eschen und, für die Pfeilschäfte, ein ganzes Gehölz schöner, gerader Haselstauden. Er fällte eine junge Esche, sägte etwa zwei Meter von dem glatten Stamm ab, schälte ihn und schabte, wie der alte Mitsima es ihn gelehrt hatte, Schicht auf Schicht das weiße Holz, bis er einen Stab von seiner eigenen Höhe in den Händen hielt, steif in der dickeren Mitte, biegsam und beweglich an den schlanken Enden. Die Arbeit machte ihm große Freude. Nach den müßigen Wochen in Berlin, wo
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