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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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schwanger wurde, als sie vierzehn war. Und die im Frühjahr heiraten würde – den Vater ihres ungeborenen zweiten Kindes, Wolle. Ein braver Junge, wie alle sagten. Aus dem Nachbarort. Aber vor allem hatte er einen Arbeitsplatz.
    Auch Kathrinchen packte den Griff des Kinderwagens fester. Aber sie stand stockstill, während die anderen immer erregter wippten. Bremer sah, wie sie den Kopf hob, den dunklen Haarschopf nach hinten schüttelte, einen verächtlichen Blick in die Runde warf und hoheitsvoll: »Ihr spinnt doch« sagte. »Ihr tickt nicht mehr richtig. Ihr habt ja alle ’ne Meise.« Dann schritt sie davon.
    Niemand sah ihr hinterher. Die Kinder hatten endlich die Aufmerksamkeit der Mütter erzwungen, die einen schimpften, die anderen umgurrten sie. Und schließlich verließen alle die Bühne, die einen gingen nach links, die anderen nach rechts, und die drei stummen Gestalten mit den Schneeschiebern bewegten sich wieder, als ob jemand eine Spieluhr in Gang gesetzt hätte.
    Er winkte noch einmal zu den Nachbarn hinüber und ging ins Haus. Als er sich einen Tee gekocht und die Zeitung aufgeschlagen hatte, war ihm klar, warum die Jungmütter heute so aufgeregt waren. Der Fall David Ferber hatte es auf die erste Seite des Lokalteils gebracht.
    Bremer wußte nicht, was er von der Sache halten sollte. Der Junge war während einer Operation im Kreiskrankenhaus Feldern gestorben, die als Routine galt, weshalb man auf Betreiben der Eltern eine Untersuchung angeordnet hatte. Die Felderner Allgemeine, deren Mitarbeiter verständlicherweise nicht immer nur über die Bullenschau mit Preiskrönung oder den in Ehren ergrauten Jubilar berichten wollten, hatte den tragischen, aber an sich nicht skandalösen Vorgang in eine Schlagzeile gefaßt, der den Verdacht, den auch die Mütter von Klein-Roda hegten, auf den Punkt brachte: »War es Pfusch?« Was die Untersuchung erst erweisen sollte, ahnte das Käseblättchen und wußten die besorgten Frauen schon jetzt: Da mußte etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Der verantwortliche Arzt hieß Dr. Thomas Regler. Regler, der zurückhaltende, ruhige Typ, dessen Frau ein paarmal im Monat in ihrem kleinen Wochenendhaus in Klein-Roda auftauchte.
    Bremer räumte den Frühstückstisch ab und wischte Nemax hinterher, der in das Schälchen mit Katzenmilch getreten war. Früher, ach was: noch vor hundert Jahren, nahm man schicksalergeben hin, daß ein Kind den unzähligen Gefahren des Lebens, den Seuchen und Krankheiten, den Unfällen, dem Hunger, den Menschen und den wilden Tieren, dem Leben eben, erlag. Heute ist das unvorstellbar geworden – wo doch alle ärztliche Kunst der Welt zu haben ist. Wo alles als möglich gilt. Und wo man gelernt hat, daß das Schicksal besiegt werden kann. Auch bei einem Kind. Vor allem bei einem Kind.
    Bremer nahm die zweite Kanne Tee mit nach oben und setzte sich an den Schreibtisch. Sollte er neidisch sein? Er hatte nicht zu den überbehüteten Kindern gehört. Eine Zeitlang hatte er geglaubt, niemand würde sich grämen, wenn er eines Morgens tot im Bett liegen würde. Vielleicht war er ein Findling? Mit dem zarten Körperbau und den bernsteinbraunen Augen sah er ganz anders aus als Vater. Das sagten alle. Und heute fand er das auch. Fotos zeigten Vater als breitschultrigen grimmigen Riesen mit kurzgeschorenen blonden Haaren und blassen Augen. Bremer war noch immer schmal und nicht sehr groß, und bevor seine Haare vorzeitig weiß wurden, waren sie dunkelbraun, fast schwarz gewesen.
    Manchmal fragte er sich, ob er jemals Eltern gehabt hatte. An das erste Kinderheim von vielen erinnerte er sich nicht. An das letzte schon. An das dunkle Haus mit den Schlafsälen, in denen sich jede Nacht ein anderer Horror abspielte. Henry war der schlimmste gewesen. Wer da nicht mithalten konnte oder gar weinte, hatte keinen friedlichen Moment mehr. Bremer schüttelte die Erinnerung ab. Großonkel Wallenstein hatte ihn herausgeholt, als er schon glaubte, die Anstalt für ungeliebte Kinder nicht mehr lebend zu verlassen. Er hatte mehr Glück gehabt als andere.
    Als unten die Glocke anschlug, war es bereits früher Nachmittag. Er hatte wundersamerweise Seite um Seite heruntergeschrieben, ohne die Überredungsrituale, mit denen er sich sonst jeden Satz abrang. Als er noch der Werbeindustrie diente, hatte er das nicht gekannt – Schreibhemmung. Damals war jedes Wort ein Schuß. Aber mit jedem Buch schien die Schwelle höher zu liegen.
    Vor der Tür stand Kathrinchen.
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