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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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Augen blitzten, die Wangen unter der Kapuze waren gerötet. Sie war das selbsternannte Alarmsystem des Dorfes, diejenige, die als erste wußte, welche Lebensgewohnheiten und welcher Umweltskandal die Gesundheit aller, vor allem die der Kinder, bedrohten.
    Eine stämmige Brünette schob die schicke schmale Sportkarre, mit der man beim Kinderlüften joggen konnte, gemächlich um die Ecke. »Die und laufen! Der kann man beim Gehen einen Knopf annähen!« hatte Marianne kürzlich gesagt – mit aller Verachtung einer Bäuerin, die morgens nach dem Schweinefüttern ihre sechs Kilometer lief und abends noch Fahrrad fuhr, wenn nicht gerade überall Schnee lag.
    Bremer holte die Zeitung aus dem Briefkasten, verbeugte sich in Gedanken vor dem alten Herrn, der sie auch heute wieder pünktlich ausgeliefert hatte und lehnte sich ans Gartentor. Die Mütter standen sichtlich erregt im Schnee, neben, vor und hinter ihnen, im Kinderwagen oder Oililly-Jäckchen, nuckelnd, nölend oder am Daumen lutschend, neun rotbackige Kleinkinder. Gemessen an der Einwohnerzahl, hatte Gottfried auf dem Weihnachtsfest im Dorfgemeinschaftshaus vorgerechnet, war Klein-Roda das Dorf mit der stärksten Geburtenrate weit und breit. Gottfried, Züchter preisgekrönter Zwergwyandottenhühner und Edelkaninchen, kannte sich aus mit erfolgreicher Fortpflanzung. »Noch nicht einmal die Italiener machen mehr Bambini!« Der Nachbar hatte stolz das Kinn gereckt und dann Klein-Roda zum Vorbild für ganz Europa erklärt.
    Paul winkte zu Marianne und Gottfried hinüber – Erwin wirkte betäubt, wahrscheinlich vom gestrigen Vollrausch – und studierte den ungewohnten Menschenauflauf. Seine Nachbarin hatte ihm an vielen Vormittagen beizubringen versucht, welches Kind zu welcher Mutter und welcher Mann zu welcher Frau gehörte. Christine zu Sascha und Maxima? Oder zu Marcus und Laura? Oder…
    Die ganz vorne kannte er gut: Kathrinchen. Sie hatte die Unterlippe zwischen die Zähne genommen, die dunklen Brauen zusammengezogen und die Hand auf den Buggy gelegt, in dem die kleine Nicole schlief. Rechts davon, die Frau, die den Tränen nahe schien, mußte Annamaria sein. Sie nickte im gleichen Rhythmus mit dem Kopf, mit dem sie den Kinderwagen schaukelte, in dem ein pummeliger Blondschopf Anzeichen für einen Wutausbruch erkennen ließ. Supermutter Christine hielt ihr Töchterchen an der Hand, das, unbemerkt von der auf die Versammlung einredenden Mutter, nach der Mütze ihres kleinen Bruders griff, der mit hochrotem Kopf halb aus dem Kinderwagen hing. Und dann sagte Sabine (ein Dreijähriger, ein Zwillingspärchen, ein Jahr alt): »David hätte noch leben können, wenn dieser Arzt nicht gewesen wäre.«
    Alle nickten.
    »Und dann möchte ich endlich wissen, warum Carmen noch immer im Krankenhaus liegt – ausgerechnet in der Abteilung von diesem Kerl!«
    Christine machte hinter das letzte Wort drei Ausrufezeichen. Die anderen jungen Frauen schaukelten die Kinder heftiger.
    »Und was ist los mit dem kleinen Ssssien?« Das junge Mädchen, das sich nicht zwischen Sorge und Neugier entscheiden konnte, mußte Katja sein.
    »Schoooon!« riefen Sabine und Annamaria.
    Seit Tagen schon hing vor dem Haus der Beckers eine Wäscheleine mit Strampelhöschen und Sabberlätzchen, darüber ein Bettlaken, auf dem »Willkommen Sean!« stand. Und seit Tagen war das Dorf in zwei Lager zerfallen – die einen sagten locker »Sssien«, die anderen rollten die Augen gen Himmel und bestanden auf »Schooon«.
    »Siehste, das kommt davon, wenn man den Kindern keine vernünftigen Namen gibt!« kommentierte Gottfried diese Debatten mit selbstzufriedenem Lächeln, bis Carmens Mann Zafer protestierte.
    »Ist mein Name vielleicht nicht vernünftig?«
    »Naja.« Gottfried guckte listig. »Bestimmt. Im wilden Kurdistan.«
    »Du kannst doch Anatolien nicht von Australien unterscheiden, du altes Schlitzohr«, hatte Zafer beinahe zärtlich gesagt und dem Alten auf die Schulter geklopft.
    Jetzt redeten alle durcheinander. Fasziniert beobachtete Bremer, wie sich der Rhythmus anglich, in dem die Frauen die Kinderwagen in Schwingungen versetzten; immer schneller wurden die Kleinen geschaukelt, von denen einige Anstalten machten, sich darüber zu beklagen. Noch nicht einmal Annamaria kümmerte sich um ihren Sohn, der tief Luft zu holen schien.
    Aber es war Kathrinchen, die plötzlich laut wurde.
    Kathrinchen, die bis heute kein Wort darüber verloren hatte, wer der Vater der kleinen Nicole war, mit der sie
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