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Schneekuesse

Schneekuesse

Titel: Schneekuesse
Autoren: Gaby Hoffmann
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was sie sagen soll. 
    Das ungleiche Pärchen steht mittlerweile unter einer Lampe. Hannah bekommt erneut einen Schock, als sie das Gesicht der Frau sieht.
    Dieses verhärmte, faltige Gesicht, eingerahmt von einer grauen Kurzhaarfrisur. Unverkennbar! Es ist ihre Nachbarin Linda Schneider aus dem dritten Stock.
    Hannah zuckt wieder zusammen, als sie die knochige Gestalt weiter mustert: Linda trägt nur ein dünnes Kleid, und an ihren Füßen hat sie Pantoffeln an. Und das bei bestimmt mittlerweile minus drei Grad Celsius. 
    „Ja, aber was um Himmels Willen ...“, ruft Hannah entsetzt.
    „Ach, lassen Sie mich!“ Linda schüttelt Hannahs Arm ab und bewegt sich wieder in Richtung Bahngleise. 
    Hannah zögert nicht lange. Sie rennt hinterher. „Hilfe!“, schreit sie dabei, „Hilfe, ist hier denn niemand?“
    Aus dem Schatten einer Plakatwand löst sich eine weitere Gestalt. Netty hat die Hilferufe gehört. An der Kante des Bahnsteigs sieht sie zwei Personen miteinander ringen. Entschlossen läuft sie hin.
    „Rasch, helfen Sie mir! Die ist nicht bei Trost! Sie will sich auf die Gleise stürzen!“, brüllt Hannah.
    Netty hat einen festen Griff. Dagegen kann die zarte Linda sich nicht wehren. 
    Sie gibt auf. Widerstandslos lässt sie sich von Netty und Hannah unter das Vordach des Bahnsteigs auf eine Bank zerren. Einen Moment lang wird ihr schwarz vor Augen. Sie fühlt sich so schwach, so müde ...
    „Die klappt uns zusammen! Schnell packen Sie Schnee in ihren Schal!“, kommandiert Netty.
    Hannah tut, wie ihr aufgetragen, und reicht Netty den eisigen Schal.
    Diese presst ihn Linda auf die Stirn und reibt ihr vorsichtig das Gesicht damit ab, bis Linda wieder bei Bewusstsein ist. Sie bibbert vor Kälte in der dünnen Kleidung.
    „Wir sollten einen Krankenwagen rufen. Sie hat bestimmt eine Unterkühlung“, schlägt Netty vor.
    Diese Worte wirken wie elektrisierend auf Linda. Sie fährt von der Bank hoch. „Nein, keinen Krankenwagen! Nein, bitte nicht! Ich will auf keinen Fall in ein Krankenhaus. Mir geht es gut.“
    „Hm ..., das sehe ich.“ Selbst jetzt hat Netty ihren Zynismus nicht verloren. Sie öffnet ihre Reisetasche und holt eine dicke Wolljacke und eine Jeans hervor. Gemeinsam mit Hannah hilft sie Linda, die Sachen anzuziehen.
    Hannah steuert aus ihrem Koffer eine weitere Jacke bei, in die sie die zitternde Linda einhüllen. Sie setzt ihre Wollmütze ab, schüttelt die langen Haare, die im Licht der Bahnhofslampe wunderschön glänzen, wie Netty neidisch registriert, und stülpt sie Linda über.
    „Sie braucht wenigstens dringend etwas Heißes zu trinken. Leider hat der Kiosk um diese Zeit schon zu. Wenn sie nicht ins Krankenhaus will, sollten wir sie zurück in ihre Wohnung bringen“, meint Netty, obwohl ihr das gewaltig gegen den Strich gehen würde. Schließlich ist sie von da aus gerade erst ausgebrochen.
    „Nein, ich möchte nicht nach Hause. Nein, auf keinen Fall!“, wehrt sich Linda.
    „Hm ..., haben Sie Verwandte oder Freunde, wo wir Sie hinbringen können?“, erkundigt sich Hannah.
    „Nein, ich habe niemanden mehr.“
    „Niemanden?“, Hannah schluckt.
    Netty ist schon immer eine Frau der schnellen Entschlüsse gewesen, so hat sie auch jetzt eine Idee: „Ich wollte Heiligabend in unserem Ferienhaus verbringen. Es ist nicht weit von hier entfernt. Nur eine halbe Stunde Zugfahrt. Dort könnten Sie sich aufwärmen und erst mal zur Besinnung kommen.“
    Linda nickt nur. Sie hat jeglichen Widerstand aufgegeben. 
    „Na gut!“ Netty seufzt und schämt sich gleichzeitig ihrer egoistischen Gedanken. Mit dem Alleinsein wird es vorerst nichts werden.
    „Ich werde Ihnen helfen!“, sagt Hannah eifrig. Dies ist ihre Chance, Hilfsbereitschaft und Engagement für andere Menschen zu zeigen. Endlich mal etwas Besonderes. Sie rettet eine Lebensmüde. Das wäre schon etwas, was sie den Eltern stolz berichten könnte.
    „Okay!“, stimmt Netty zu. Jetzt kommt es auf eine Person mehr auch schon nicht mehr an. Außerdem kann sie Unterstützung beim Kümmern um Linda bestimmt gebrauchen. „Es gibt ausreichend Betten im Haus.“ Wie um Himmels Willen soll sie in ihrer Situation nun auch noch einer Lebensmüden Mut machen?
     
     

Kapitel 4
     
    Draußen auf dem Land liegt bereits eine festgefahrene Schneedecke auf der Fahrbahn. Das Taxi benötigt beinahe die doppelte Zeit wie sonst für die Strecke vom Bahnhof bis zu Nettys Ferienhaus.
    Hannahs schlechte Laune ist verflogen. Sie weiß auch nicht
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