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Schnee an der Riviera

Schnee an der Riviera

Titel: Schnee an der Riviera
Autoren: Rosa Cerrato
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dem Piemont hierhergekommen war, nicht verändert. An den Wänden ringsum reihten sich die klassischen, einfachen Metallregale, deren rostige Stellen mit zahllosen Schichten grauer Farbe übertüncht worden waren. Allerdings sah man von den Regalen ohnehin nicht viel, waren sie doch vollgestopft mit den unglaublichsten Flaschen, von denen die obersten über und über mit Staub bedeckt waren. Es gab nichts, was es nicht gab: uralten Fernet Branca, Liquore Strega, Tausende Cordials – sogar den Cordial Campari, den Nellys Mutter so gern getrunken hatte – und Cynar, Stock 84, Vecchia Romagna sowie unzählige Grappas, sämtliche Grappas Italiens, dazu eine Weinauswahl, die selbst die Genueser Wein- und Spirituosenmesse blass aussehen ließ. Schon beim Betreten des Lokals ging Nelly das Herz auf. Beppes Geheimwaffe allerdings war sein Cappuccino (was jedoch nur die wenigen Stammkunden wussten): fraglos der beste der ganzen Stadt. Es war gewissermaßen ein doppelter Cappuccino. Mau wäre sicher beleidigt gewesen, hätte er gewusst, dass seine Mutter jeden Morgen einen (manchmal auch zwei) Cappuccino bei Beppe trank, nachdem er sich so viel Mühe mit dem Frühstück gemacht hatte. Es war wie ein geheimes Laster, ihre Art, gut in den Tag zu kommen, ein Ritual eben.
    An diesem Morgen jedoch hatte Nelly es eilig und konnte sich nicht für ein Schwätzchen zu den üblichen, ihr wohlbekannten Stammgästen setzen, größtenteils Pensionäre, die bereits in aller Frühe über Sport und Politik diskutierten und einander das einzige, druckfrische Exemplar des Secolo aus den Händen rissen. Sie stürzte ihren Cappuccino hinunter, grüßte und hastete unter den verdutzten, fragenden Blicken der Rentner wieder hinaus. Beppe, graues Haar, bordeauxfarbenes Polohemd, stämmig, mit lebhaften Augen im braungebrannten, zerfurchten Gesicht, zuckte enttäuscht die Achseln, denn der kleine Plausch mit der Kommissarin gehörte nun einmal zum Tagesanfang. Mit ihr konnte man gut diskutieren. Und manchmal ließ es sich auch herrlich mit ihr streiten.
    Eilig legte Nelly das Stück bis zum Tunnel neben dem Wolkenkratzer zurück (der erste Genuas, noch aus der Zeit des Faschismus, und deshalb bis heute »der Wolkenkratzer« genannt), während die bunte Menschenvielfalt in den Gassen nach und nach den Gesichtern der im Zentrum arbeitenden Angestellten wich. So schnell sie konnte und mit angehaltenem Atem durchquerte sie den Tunnel Richtung Meer. Der morgendliche Verkehr tobte, die Luft war zum Ersticken. Sie ging gern zu Fuß, doch wie jeden Morgen kam ihr in den Sinn, dass man eigentlich eine Gasmaske bräuchte, um den Tunnel, der das Stadtzentrum mit dem Foce-Viertel verband, unbeschadet zu durchqueren.
    Kaum hatte man die Unterführung hinter sich, tauchte rechts das helle Gebäude des Liceo D’Oria auf, daneben die Kolumbus-Treppenanlage mit den drei aus Frühlingsrabatten gepflanzten Karavellen, und schließlich der mächtige Bau des Polizeipräsidiums. Links davon lagen die herrliche Piazza della Vittoria und dahinter die Gärten des Bahnhofs Genova Brignole.
    Das Polizeipräsidium war zu Zeiten Mussolinis in schönstem faschistischen Stil erbaut worden, genau wie die angrenzende Piazza della Vittoria mit dem Gefallenendenkmal. Nelly mochte es dennoch. Sie mochte einfach alles an ihrem Arbeitsplatz. Für sie, die aus der tiefsten piemontesischen Provinz stammte, war Genua immer wieder eine Überraschung, ein Geschenk: Der selbst im Winter häufig blaue Himmel, das Meer unweit des Präsidiums und die immergrünen Parks machten ihr sofort gute Laune. Sie liebte diese Stadt, trotz der Abgase und des ständigen Verkehrschaos, dem man immer wieder mit ebenso abenteuerlichen wie sinnlosen Einbahnstraßenregelungen beizukommen versuchte, und trotz ihrer Bewohner, die oftmals alles taten, um die schlimmsten Vorurteile über ihresgleichen zu bestätigen. Genua hatte einen unschlagbaren Pluspunkt: Jeder scherte sich nur um seinen eigenen Kram, und so war man frei. Frei, nicht so elegant zu sein wie in Mailand und auf Klatsch oder erzwungene Geselligkeit zu pfeifen, die sowieso fast alle mieden. Frei, so zu leben, wie man wollte, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Wer wie Nelly in einem Dorf aufgewachsen war, in dem alle über alles und jeden informiert waren und nichts lieber taten, als ihre Nasen in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, wusste diese bittersüße Freiheit zu schätzen.
    Die Kehrseite der Medaille, die Einsamkeit,
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