Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schnappschuss

Schnappschuss

Titel: Schnappschuss
Autoren: Garry Disher
Vom Netzwerk:
beobachtete einen schwarzen Schwan und dachte an seine tote Frau. Sie hatte sein Bedürfnis, früh aufzustehen und spazieren zu gehen, allein spazieren zu gehen, nie verstanden. Vielleicht war dieser grundsätzliche Unterschied zwischen ihnen schon der Anfang vom Ende gewesen. Bei seinen einsamen Gängen konzentrierte er sich: Er konnte dabei Probleme lösen, Strategien planen, Berichte entwerfen, lebte dabei seine stärksten Emotionen aus. Andere Menschen – auch seine Frau – wollten sich beim Gehen unterhalten oder lieber zwischendurch was trinken, aber Challis ging, um zu denken, um sein Blut in Bewegung zu bringen und um Innenschau zu halten.
    Seltsam, dass er immer noch im Geiste mit ihr redete. Seltsam, dass sie immer noch die Person war, der er Streitigkeiten und Informationen weitergab, so als sei sie immer noch wichtiger als jeder andere Mensch, so als habe sie nicht versucht, ihn umzubringen, so als habe ihr eigener Tod das alles nicht beendet.
    7 Uhr 45. Er löste sich vom Anblick des Schwans, kehrte zum Auto zurück und fuhr zur High Street. Die Frühaufsteher in der Bäckerei, dem Café und dem Zeitungsladen schlossen ihre Türen auf, fegten den Bürgersteig, bestückten ihre Registrierkassen. Challis betrat das Café Laconic, kaufte sich einen Kaffee und ein Croissant zum Mitnehmen, setzte sich in seinen Wagen, sah sich um, wartete, trank und aß.
    Fünf Minuten vor acht tauchte Lowry auf. Er kam vom Parkplatz hinter der Ladenzeile. Der Mann, ein großer, stämmiger Kerl, der gern viel Zähne zeigte, wenn er redete, trug Jeans, einen Parka und eine Wollmütze. Challis schaute zu, wie Lowry in den Taschen nach den Schlüsseln kramte und die Tür zu seinem Geschäft aufschloss. Alle Fenster und die Tür waren mit Anzeigen für Handys und Telefontarife zugepflastert. »Waterloo Mobile World« hieß der Laden.
    Challis ließ Lowry ein paar Minuten Zeit, dann betrat er das Geschäft und löste dabei einen Summer aus. »Wir öffnen erst um …«, hob Lowry an, doch dann hielt ihn etwas vom Weitersprechen ab, eine gewisse Stille und Konzentriertheit an Challis.
    »Was wollen Sie?«
    »Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten«, antwortete Challis.
    Raymond Lowry ließ an Mund und Schultern Zorn und Verwirrung erkennen. »Worüber?«
    »Die gerichtliche Untersuchung der Todesursache ist am Donnerstag«, sagte Challis. »Ich schließe gerade meinen Bericht für den Coroner ab.«
    »Ich bin sofort wieder da«, sagte Lowry resigniert. Er schloss die Ladentür ab und bat Challis dann mit einer Geste, ihm in den voll gestopften hinteren Raum zu folgen, wo er sich sofort hinter einen Schreibtisch setzte und Eintragungen in sein Hauptbuch vornahm. In dem kleinen Raum war es stickig. Ein Ventilator pustete glühend heiße Luft an Challis’ Knöchel.
    Schließlich blickte Lowry auf. »Tut mir leid. Bei diesem Geschäft gibts ’ne Menge Papierkram zu erledigen.«
    Challis besah sich die grauen Stahlregale, die mit Handyschachteln und Zubehör voll gestopft waren. »Läuft denn das Geschäft?«
    »Kann nicht klagen.«
    »Besser als das Leben in der Navy?«
    Lowry zuckte mit den Schultern.
    Die Marinebasis lag ein paar Kilometer entfernt. Lowry hatte dort eine Weile gedient, eine Frau aus der Gegend kennen gelernt und schließlich den Dienst quittiert. »Da kann man keine Kinder großziehen«, sagte er, »andauernd wird man versetzt. Und mit dem hier komm ich ganz gut über die Runden.«
    Lowry, der solide Geschäftsmann und Familienvater. Challis erwiderte nichts darauf, sondern wartete ab, ein alter Trick von ihm.
    »Hören Sie«, sagte Lowry mit einem entwaffnenden Lächeln, bei dem er seine großen prächtigen Zähne bleckte, »was soll ich Ihnen noch sagen? Ich kannte den Typen kaum.«
    An einem Samstagabend im Mai war ein Waffenmeister von der Marinebasis, der bis oben hin voll war mit einer Mischung aus Alkohol und Drogen, aus dem Fiddler’s Creek geworfen worden. Zwei Stunden später war er unbemerkt mit einer Pistole aus der Waffenkammer wiedergekommen, hatte einen Türsteher erschossen und war dann zum Stützpunkt zurückgekehrt. Noch etwas später hatte er sich mit derselben Waffe getötet. Das hatte weit reichende Folgen: Achtzehn Kadetten waren entlassen worden, nachdem ein Drogentest positiv ausgefallen war, und bei der Waffenkammer wurde Inventur gemacht. Bei einer ersten Kontrolle stellte sich heraus, dass ein paar Pistolen fehlten, alte Bestände, die hätten ausgemustert werden sollen. Challis wollte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher