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Schlussakt

Schlussakt

Titel: Schlussakt
Autoren: Marcus Imbsweiler
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…«
    »Kaffee oder Tee, Herr Koller?«
    »Kaffee. Und er darf ruhig stark sein.«
    30 Minuten später stand ich vor einem blassgelb gestrichenen
Altbau in der Neuen Schlossstraße und schwitzte. Ein pakistanischer
Zeitungsausträger tappte pfeifend das steile Kopfsteinpflaster hinunter,
ansonsten lag die Straße wie ausgestorben da. Ich schloss mein Rennrad ab und
betätigte die obere von sechs Klingeln. Nach einer Weile summte der Türöffner.
Mit dem Aufzug fuhr ich in den dritten Stock.
    Oben gab es nur eine
einzige Tür, geschlossen, ohne Namensschild. Ich klingelte wieder, wartete,
hörte ferne Stimmen, dann ein Brummen und Schlurfen. Ein Mann öffnete, genauer
gesagt ein Männchen, deutlich über das Pensionsalter hinaus und leicht bucklig.
Seine gebeugte Haltung ließ mich rosige Kopfhaut sehen, um die ein wirrer
Haarkranz lief. Er schaute mich aus großen Kinderaugen an und summte leise vor
sich hin.
    »Guten Morgen«, sagte ich. »Max Koller.«
    Keine Reaktion, wenn man von dem unverdrossenen Summen einmal
absah.
    »Ihre Frau erwartet mich.«
    Da strahlte der Kleine über sein ganzes faltiges Gesicht. Es
war die reine, innige Freude, die mir entgegenlachte, so herzensinnig, dass ich
sie ihm nicht abnahm. Wahrscheinlich strahlte er jeden Besucher so an, ob
Trickbetrüger oder Krankenpfleger.
    »Sie ist im Wintergarten«, flüsterte er und ließ mich
eintreten. »Einmal ganz durch. Sehen Sie? Ganz durch, bis da hinten.«
    »Danke«, sagte ich. Vielleicht hatte ich unrecht, und er war
einfach ein netter, alter Mann mit krummen Knochen und fröhlichem Herzen.
    Während er sich durch eine Seitentür verkrümelte, schritt ich
den breiten, geräumigen Flur entlang. Er wurde von altertümlichem Holzmobiliar
flankiert, darunter ein Klavier mit gedrechselten Beinen und Kerzenhaltern, und
endete vor einer Doppelflügeltür, an die sich ein Wintergarten anschloss.
Klassische Musik umfing mich, als ich eintrat.
    »Guten Mo-horgen«, schallte es mir entgegen.
    Die Dame des Hauses saß lächelnd in einem Korbstuhl, hatte
die Last ihrer warm eingepackten Beine einem Fußbänkchen anvertraut und ließ
sich die spärliche Wintersonne ins Gesicht scheinen. In Griffweite stand ein
Telefon auf einem Schemel. Seitlich ein kleiner Tisch und ein Stuhl, ringsum
Kübelpflanzen auf Marmorplatten, ein gluckernder Zimmerspringbrunnen, viel
Nippes. Von der Decke glotzten mich zwei Lautsprecherboxen an, in einem Käfig
schaukelte ein Papagei traurig vor sich hin. Das Beeindruckendste jedoch war
die Glasfront des Wintergartens, die freie Sicht in drei Himmelsrichtungen bot.
Die gesamte Altstadt lag einem zu Füßen, ein Spielzeugland aus
Lebkuchenhäuschen, man musste nur noch zugreifen. Mit diesem Anblick vor Augen
verstand sogar ich, warum die Touristen aus aller Welt nach Heidelberg kamen
und Film um Film verknipsten. Die von Wonneguts bewohnten einen exklusiven
Hochsitz, der sie beim Frühstück auf den Fluss sehen ließ, auf die Alte Brücke,
auf den Philosophenweg und auf die Dachterrassen all der anderen
Altstadtbewohner. Es war zum Heulen schön.
    »Nehmen Sie doch Platz, Herr Koller«, sagte Frau von
Wonnegut. »Und bitte entschuldigen Sie, wenn ich sitzen bleibe. Meine Beine
können nicht mehr so, wie ich will.«
    Ich reichte ihr meine Hand. »Eine schöne Aussicht haben Sie.«
    »Wir wohnen seit 40 Jahren hier und genießen sie jeden Tag.
Ich würde Sie gerne meinem Mann vorstellen, aber er sitzt bestimmt wieder an
seinen Käfern.«
    »Er hat mir geöffnet.«
    »Paul?« Ihr Dauerlächeln verschwand. »Nicht Frau Stein?«
    »Wie eine Frau sah er nicht aus«, sagte ich und setzte mich
an den kleinen Tisch. Der Papagei gab ein hustendes Geräusch von sich,
schüttelte sein Gefieder und drehte mir den Rücken zu.
    »Frau Stein!«, rief meine Gastgeberin mit schriller Stimme.
»Wo stecken Sie denn? Unser Gast ist da!«
    Einen Servierwagen hinter sich herziehend, betrat eine
magere, frostig dreinblickende Frau den Wintergarten. So karg sie in ihrem
dunklen Kleid wirkte, so üppig präsentierte sich ihr Frühstück. Eine große
Kanne Kaffee, Milch, Sahne, zwei Sorten Saft, Schinken, Käse, Marmelade, Honig,
ein wachsweiches Ei und verschiedene Früchte, alle mundgerecht zugeschnitten.
Und alle für mich, es gab nämlich nur einen Teller. Respekt, Frau Stein! Das
sah nach harter, ehrlicher Sonntagmorgenarbeit aus.
    »Haben Sie die Türklingel nicht gehört?«, fragte Frau von
Wonnegut
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